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Frans de Hoon: Der Anarchismus
Eine positiv-kritische Betrachtung

Ein Wort vorab
Die “Neue Rechte” oder die “Konservative Revolution” – oder wie immer Freund oder Feind sie sonst nennen will – hat kein Programm. Wir verkünden ein bestimmtes Gedankengut und trachten dies zu verbreiten, ohne Rücksicht auf die Personen, von denen diese Gedanken ursprünglich stammen. Hieraus schaffen wir unsere persönliche Lebenshaltung und unsere Weltanschauung. Wir wollen im wahrsten Sinne des Wortes Freidenker sein. Nicht gebunden an religiöse oder politische Dogmen, noch an geschlossene Lehrsätze oder politische Programme. Die Windrichtung ist uns gleichgültig. Finden wir Gedanken, die von der sogenannten “Linken” kommen und die uns helfen, unsere europäische Eigenart zu bewahren, dann werden wir die Gedanken gern unserem Publikum nahebringen. Gleichfalls, wenn sie von “rechts” kommen, oder von dort, worauf man kein Etikett kleben kann. Und schließlich wollen wir uns davor hüten, selbst Etiketten zu kleben oder andere zu kleben als die, welche bestimmte Gruppen oder Personen sich selbst zuerkennen.

Diejenigen, die uns kennen, wird es denn auch nicht verwundern, daß wir hier, ohne uns selbst Gewalt anzutun, einen – wie wir meinen – keineswegs negativen Beitrag über das Denken und Treiben des historischen Anarchismus bringen. Ein Denken, das in seiner bunten Vielfalt – wie könnte es bei einem Begriff wie Anarchismus auch anders sein – durch die Anhänger selbst als “links” angesehen wird, und durch die ausgesprochenen Linken, so u.a. die Kommunisten, als “linksradikal” abgestempelt wird. Dies soll denn zum Ausdruck bringen, daß der Anarchismus, so wie alles, was sich links nennt, progressive Ideen fördert im Gegensatz zu anderen, konservativen Denkrichtungen. Aber sind die Dinge wirklich so eindeutig? Wir werden an Hand seiner Grundideen zu zeigen versuchen, daß der Anarchismus ganz konservative und gerade darum soviel menschliche, allzumenschliche Merkmale aufweist, um ein Wort von Nietzsche zu gebrauchen. Darin liegt für uns denn gleichzeitig eine gewisse Anziehungskraft des Anarchismus.

Hauptmerkmale des Anarchismus
Lassen Sie uns zuerst versuchen, sofern das bei einem Begriff wie diesem möglich ist, eine Definition des Anarchismus zu geben. Er ist zuerst und vor allem libertär – dies im Gegensatz zu doktrinär – mit anderen Worten: freiheitsliebend. Dieser Freiheitsbegriff ist vor allem ausgerichtet auf die Freiheit des Individuums. Die individuelle Freiheit ist für etliche, wie z.B. Max Stirner, absolut – wir kommen darauf zurück. Für andere ist diese Freiheit eher relativ, in dem Sinne, daß die Freiheit des Einzelnen beschränkt wird durch die Freiheit der anderen. Der Anarchist will in erster Linie frei sein von irgendwelchem Zwang, von irgendwelcher Reglementierung oder von irgendeinem Gesetz, die seine Individualität einschränken oder aushöhlen. Er lehnt jede Bevormundung ab. Weil es in unserer modernen Gesellschaft vor altem der Staat ist, der auf allen Gebieten unseres Lebens als bevormundende Gewalt auftritt, wendet sich der Anarchist in erster Linie gegen den Staat und von daher gegen jede von oben auferlegte Autorität, Logischerweise folgt daraus, daß er auch jede Form von Hierarchie ablehnt, weil diese seiner Meinung nach stets einen Druck von oben nach unten beinhaltet, ein Erlassen von Befehlen und ein Auferlegen von Ordnung und Autorität. Nach Bakunin besitzt keine einzige Person, keine einzige Instanz einen solchen inneren Wert, daß er Autorität rechtfertigen könnte.

Daß sich die anarchistischen Denker aus ihrem individualistischen Freiheitsdenken und ihrer Ablehnung von jeder Form von Hierarchie oder Autorität auch gegen die Religion wenden würden, lag auf der Hand. Um so mehr, da in den vorhergehenden Jahrhunderten die vorherrschende Religion, nämlich das Christentum in all seinen Formen, ein dankbares Instrument in den Händen der Herrschenden war, um das Volk demütig zu halten und zu unterwerfen. Soweit es nicht gerade die Religion war, die bürgerliche Autoritäten gebrauchten, um das Volk an seinem Willen und seiner Herrschaft zu hindern. Der Anarchismus blühte in dem Jahrhundert auf, in dem die Vernunft hoch im Ansehen stand, in dem Jahrhundert, in dem Gott infragegestellt wurde und in dem durch die schnelle Entwicklung der Naturwissenschaften und ihres Nebenprodukts Technik die erste industrielle Revolution möglich werden sollte. Es offenbarte sich als das Wahre eine neue Welt mit neuen Zukunftsperspektiven. Wo jetzt Gott in den letzten Zügen liegend für tot erklärt wurde, stand eine Reihe von durch den Materialismus inspirierten Denkern auf, die das Heil des Menschen nicht länger in einem imaginären Jenseits, sondern im Hier und Jetzt suchten, hierzu mit angetrieben durch die stets zunehmende geistige und materielle Verarmung des anwachsenden Industrieproletariats. Aber im Gegensatz zu Karl Marx, der, von einem profanisierten Dogmatismus ausgehend, behauptete, daß die Geschichte einen vorausbestimmten, zwangsmäßigen Verlauf kenne, mit dem Endresultat des Absterbens des Staates und der Diktatur des Proletariats als Folge eines objektiv notwendigen dialektischen Prozesses, erklärte der Anarchist Bakunin, daß in der Welt kein Platz für vorausbestimmte Pläne oder festgelegte vorauszusehende Gesetze sei.

Hiermit wandte sich Bakunin nicht nur von dem religiösen Dogmatismus, sondern auch vom Rationalismus der Aufklärung ab. Daß die staatsfreie Gesellschaft und die Aufhebung der Hierarchie und Autorität nicht ohne Revolution kommen kann, ist einleuchtend. Der Anarchismus ist denn auch ganz besonders revolutionär, und in diesem revolutionären Prozeß ist die Gewalt nicht ausgeschlossen. Aber Bakunin ist der Ansicht, daß Gewalt nicht gegen Personen, wohl aber gegen Einrichtungen gerichtet sein darf. Doch sollte der Anarchismus unter anderem mit Tolstoi und Ghandi auch eine “gewaltlose” Richtung hervorbringen, während andererseits Anschläge gegen Personen – als Vertreter von Einrichtungen – ebenfalls vielfach vorkamen, die von Bakunin und Kropotkin gutgeheißen, ja selbst ermutigt wurden.

Hiermit glauben wir einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Merkmale des Anarchismus gegeben zu haben. Obgleich hierzu viele Varianten möglich sind und in Wirklichkeit auch vorgekommen sind, meinen wir doch, daß niemand, der mit dem Anarchismus wirklich bewandert ist, dieser Übersicht widersprechen wird.

Pierre-Joseph Proudhon
Bevor wir näher auf die Hauptmerkmale eingehen, wobei wir auf all die Doppelwertigkeiten stoßen werden, die dem klassischen “progressiven” Bild des Anarchismus einen – in unserem Sinne – eher konservativen Anschein geben, wollen wir erst einmal das Gedankengut des “Vaters” des Anarchismus näher betrachten. Denn, obgleich der Anarchismus seine ersten Triumphe, aber auch seine ersten Niederlagen im revolutionären Rußland Ende des vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts erlebte, liegt sein Ursprung doch in Frankreich im libertären Sozialismus Proudhons als Reaktion auf den Jakobinismus der Französischen Revolution und den rationalen “wissenschaftlichen” Messianismus von Karl Marx.

Abgesehen von der Tatsache, daß er sein Leben in den Dienst der “Erniedrigten” und “Verdammten” gestellt hat – er selbst, geboren 1805 In BesanVon, war von sehr “niedriger” Abkunft und sollte diese Abkunft nie verraten oder verleugnen – ist es doch vor allem sein philosophisches Denken, was uns interessiert, in erster Linie ist es das, was Pierre Haubtmann seinen “Vitalismus” genannt hat: eine Gesellschaft, die lebenswert sein soll, muß eine Gesellschaft der Tat sein, und in fortwährender Veränderung. Und der Motor dieser Veränderung ist die Mühe, die Aktion, die Schöpfung. Dieser “Vitalismus” ist folglich der Ausdruck der kreativen Fähigkeit der vitalen Lebenskraft des “Arbeiterkollektivs” oder, mit anderen Worten, des Volkes der Produzenten. Inspiriert von einem Bild der Welt, die fortwährend in Bewegung ist infolge ihrer unendlichen Vielfalt, behauptet Proudhon, daß die soziale Wirklichkeit, die menschliche Wirklichkeit, in einer dialektischen Bewegung ohne Ende begriffen ist: “Die moralische wie auch die physische Welt beruht auf einer Vielfalt von nicht ableitbaren Elementen. Es kommt von den entgegengesetzten Kräften dieser Elemente, daß sowohl das Leben wie auch die Bewegung aus dem Universum hervorgeht.” Was Proudhon vorstellt, ist also ein “empirischer Dialektismus”.

Aus dieser Perspektive hat der Mensch die Möglichkeit – zumindest wenn er diese Möglichkeit ergreift – sich selbst und damit die Welt zu formen. Es gibt nicht so etwas wie eine unvermeidliche Notwendigkeit: “Der Schöpfer der ökonomischen Notwendigkeit ist der Mensch, und der Erbauer des ökonomischen Systems ist ebenfalls und nochmals der Mensch.”

Der Vermittler der Kraft, die der Mensch auf die Welt ausübt – das Mittel also, um eine neue Welt zu schaffen –, ist die Arbeit. Für Proudhon ist die Arbeit “der totale Erzeuger, sowohl der kollektiven Kraft wie auch der geistigen Ideen und Werte.” Die Idee, so behauptet Proudhon, “wird aus der Aktion geboren, und muß in die Aktion zurückkehren.” Durch die Arbeit eignet sich der Mensch die Schöpfung an. Er wird Schöpfer, er wird dadurch ein Prometheus und versetzt sich selbst in die Lage, eine individuelle Metamorphose zu erfahren, aber auch – und vielleicht besonders – eine gemeinschaftliche Metamorphose: die Klasse der Proletarier wird sich, unter dem kapitalistischen System, zum kollektiven Prometheus aufwerfen; Arbeit, die im Rahmen eines Systems der Ausbeutung der Arbeiter durch den Kapitalismus ein Faktor der Verfremdung geworden ist, wird hierdurch das Mittel – das einzige Mittel – für eine zukünftige Entfremdung. Das Freimachen der Arbeit und der Arbeiter muß geschehen durch die Aufhebung der Diktatur, die das spekulative Kapital auf das produktive System ausübt.

Es muß also, nach Proudhon, eine neue revolutionäre Arbeits- und Arbeitermoral entstehen. In der Gemeinschaft des Volkes, in der Gemeinschaft der Produzenten sieht er die ausschließliche Kraft, die diese neue Moral entstehen lassen kann. Und diese Kraft muß sich organisieren auf einer föderativen und einer auf gegenseitiger Teilhaberschaft beruhenden Basis. Hierdurch, und hierdurch allein, kann der unterdrückende Privatbesitz, der auf Spekulation, auf Manipulation und auf den “coups” des Bankkapitals beruht, schachmattgesetzt und ausgeschaltet werden. Aber was das betrifft, so sagt Proudhon, dürfen wir nichts erwarten vom allgemeinen Stimmrecht – ein Kampfziel des aufkommenden Sozialismus in der Zeit. “Auf die Politik dürfen wir nicht hoffen. An Politik rühren, heißt sein Hände im Schlick waschen. Was die Arbeiter tun müssen, ist sich vereinigen, sich entwickeln zu revolutionären Kämpfern, die einzig und allein auf sich selbst vertrauen.” In diesem Sinne auch verherrlicht er den Kampf: “Ich begrüße den Krieg”, schreibt er, “weil einzig durch ihn der Mensch, eben dem Dreck entsprossen, der ihm im Mutterschoß gedient hat, in all seinem Wert und all seiner Tapferkeit aufstehen wird.”

Es ist dieser “Vitalismus”, dieser “aromethianische Humanismus”, wie Jean Touchard es genannt hat (vgl. “Histoire des idées politiques”, 1967), diese erhabene Sicht der Arbeit und der Arbeiterklasse – die wir auch in dem Buch “Der Arbeiter” des konservativen Revolutionärs Ernst Jünger wiederfinden – auf die die Anarchisten ihre Stellung aufgebaut haben. Was diese noch gemeinsamen haben mit dem heutigen “Progressismus” der sogenannten “Linken” oder mit dem politischen Syndikalismus, das überlassen wir dem Urteil unserer Leser.

Individualismus und individuelle Freiheit
Die individuelle Freiheit und die Selbstbestätigung des Individuums sind groß angeschrieben im Denken der Anarchisten. Gustav Landauer (1870-1919), deutscher Anarchist jüdischer Abkunft, schreibt: “Alles beginnt aus dem Individuum und alles liegt im Individuum.” Und Max Stirner (1806-1856) ruft aus: “Verwirkliche Dich selbst”, und “Freiheit muß man nehmen, sie kann Dir niemals gegeben werden”. Aber diese Freiheit und dieser Individualismus bedeuten nicht Bindungslosigkeit. Denn wie Frans Boenders bemerkt: “Toleranz, Freiheit und individuelle Verantwortlichkeit stehen erhaben auf den anarchistischen Fahnen geschrieben.” (“De volle vrijheid”, Verlag Manteau, 1976). Für Landauer entsteht die Gemeinschaft in der Seele des Individuums, so daß einzig die Vorstellungen der Individuen der Gemeinschaft Gestalt geben können. Dies setzt die freiwillige Dienstbereitschaft der Bürger, der Arbeiter voraus. Aber das muß in voller Freiheit geschehen. Und der Theoretiker ganz besonders dieser vollen Freiheit ist wohl Max Stirner. Er ist der Begründer von dem, was man den “individualistisch-psychologischen Anarchismus” nennt. Er stand stark unter dem Einfluß von Nietzsche. Stirner betrachtet die individuelle Psyche als die einzig mögliche Quelle für eine zusammenhängende Analyse unseres “Seins” und unserer Gesellschaft, und er teilt deshalb die Außenwelt ein in ich-verstärkende und ich-schwächende Kräfte. Von hieraus verwirft er “jede Gesellschaftsauffassung als psychologisch von keinerlei Wert, die nicht das egoistische Individuum als ursprüngliche Erscheinung ansieht.” (John Cayroll in “De volle vrijheid”, op.cit.) “Zuerst besteht das Individuum”, wird er sagen, “dann erst beginnt es sich selbst zu beschränken.” Und: “Du hast einzig dich selbst zu erkennen, was du wirklich bist, und deine scheinheiligen Anstrengungen aufzugeben – deine wahnsinnige Manie, etwas anderes zu sein als du bist.” (“Der Einzige und sein Eigentum”, 1844) “Ich wähle für mich selbst, wozu ich Lust habe, und in dieser Wahl zeige ich mich selbst – eigenmächtig.” (ebenda) Für Stirner ruft jede Form von sozialer Organisation notwendigerweise repressive Maßregeln hervor, und für ihn ist die Macht des Staates im Wesen ideologisch und abhängig von der erklärten Indoktrination seiner Untertanen.

Dagegen ist für Stirner die Freiheit um der Freiheit willen sinnlos. “Der Mensch befreit sich selbst vom Zwang, wenn er statt dessen ein wenig sich selbst schafft.” Stirner verherrlicht die Lebensmomente, die dem Rhythmus erhöhen und die Erfahrung erheben, momentan von hoher Intensität und Betroffenheit, Augenblicke, die man sich später nostalgisch vor Augen hält und die das Leben unverkennbar fesselnd machen und der Mühe wert sind, gelebt zu werden. (John Carrolll, op.cit.)

Individuelle Freiheit also als notwendige Bedingung für die vollständige Entwicklung und Selbstverwirklichung des Individuums. Wie fern steht dieses anarchistische Denken denn dem “konservativen” Kapitalismus etwa von Ayn Rand? Wir zitieren: “Eine Gesellschaft, die ein Individuum der Früchte seiner Arbeit beraubt, oder ihn knechtet, oder die Freiheit seines Geistes zu beschneiden versucht, oder ihn zwingt, gegen seine eigene Einsicht zu handeln – eine Gesellschaft, die Edikte erläßt, die im Gegensatz zu den Notwendigkeiten der menschlichen Art stehen – ist, genau gesagt, keine Gesellschaft, sondern Pöbelhaufen, der durch institutionalisierten Bandenterror zusammengehalten wird. Eine solche Gesellschaft vernichtet alle Werte menschlichen Zusammenlebens, kann nicht gerechtfertigt werden und bildet eine tödliche Bedrohung des menschlichen Fortbestehens. (...) Wenn die Menschen in einer friedsamen, produktiven und rationellen Gesellschaft zusammenleben und zum gegenseitigen Vorteil miteinander umgehen wollen, dann müssen sie den sozialen Grundsatz anwenden, ohne den keine moralische oder zivilisierte Gesellschaft möglich ist: den Grundsatz der Rechte des Individuums. Das Anerkennen von Rechten des Individuums bedeutet das Anerkennen und Anwenden der Existenzbedingungen, die durch die menschliche Art gestellt werden.” (Ayn Rand, “Kapitalisme, het onbegrepen ideaal”, Verlag Novapress, Lanen)

Staat und Gemeinschaft
Es sind übrigens noch weitere Übereinstimmungen zwischen dem Anarchismus und dem liberalen “Kapitalismus” von Ayn Rand aufzuzeigen. Der Anarchismus verwirft den Staat als eine verfremdende, auf der Hierarchie beruhende Einrichtung, die jede Initiative, die von der Basis ausgeht, unterdrückt oder erstickt. Seine Autorität ist unmenschlich, weil sie die wirkliche Autonomie des Individuums antastet. Seine Macht beruht auf Mißtrauen einerseits und Schmeichelei andererseits. Aber der Anarchismus ist sich wohl bewußt, daß er den Staat nicht von heute auf morgen abschaffen kann. Jede Initiative und jede Theorie, die darauf abzielt, die Macht des Staates zu beschränken und ihn zu dezentralisieren, ist dem Anarchismus denn auch willkommen. Ist das jedoch nicht genau auch das, was der liberale “Kapitalismus” will? Nach Ayn Rand ist es die einzige Funktion, die der Staat mittels seiner Regierung übernehmen darf, dafür zu sorgen, daß die freien Individuen keine physische oder geistige Gewalt gegeneinander gebrauchen. Aber worin sich Ayn Rand grundlegend vom Anarchismus unterscheidet, ist die Tatsache, daß sie jede Form von Gemeinschaft ablehnt und folglich auch jede Form von sich daraus entwickelnder Selbstlosigkeit. Hierdurch wird ihr Individualismus zu einem Egozentrismus und zu einem Kampf aller gegen alle nach dem harten “Gesetz” des Dschungels, woran auch Darwin noch glaubte. Aber seit Darwin hat es auf biologischem und soziobiologischem Gebiet, das sich auch mit dem Menschen beschäftigt, allerhand Fortschritte gegeben und wir können uns die Frage stellen, ob der “Kapitalismus” von Ayn Rand wohl so “konservativ” und der Anarchismus wohl so “progressiv” ist wie der Gebrauch dieser Wörter in ihrer heutigen Bedeutung vermuten läßt.

Fürst Kropotkin, geboren 1842 in Moskau, war ein Abkömmling des alten russischen Landadels. Er studierte Geographie, und während seines Militärdienstes in Sibirien kartographierte er manches bis dahin unbekannte Gebiet. Bei einem Besuch der religiösen Gemeinschaften von Dukhobor kam er stark unter den Eindruck der gelungenen freiwilligen Zusammenarbeit, die dort herrschte. “Ich begann den Unterschied zu sehen zwischen dem Handeln aufgrund von Befehl und Disziplin und dem Handeln aufgrund gemeinschaftlicher Vorstellungen”, sollte er später schreiben. Dieselbe freiwillige Zusammenarbeit fand er später in der Schweiz bei den Uhrmachern im Jura. Das war die Zeit, da Darwin sein Buch “Origin of Species” veröffentlichte, worin der “Kampf ums Dasein” als wichtigster Faktor der Evolution der Arten beschrieben wurde. Aber Kropotkin war nicht nur ein sorgfältiger Beobachter der Menschen, sondern auch der Tiere, deren Verhalten er studierte – man könnte ihn als einen entfernten Vorläufer unserer heutigen Verhaltensforscher ansehen, und sogar als einen recht erfolgreichen. Denn Kropotkin bemerkte, daß zwischen den Tieren ein und derselben Gemeinschaft nur wenige Fälle mörderischer Kämpfe vorkamen. Statt rücksichtslosen Wetteifers, wie er sich nach den Anhängern von Darwin hätte zeigen müssen, entdeckte Kropotkin vielmehr eine Form gegenseitiger Hilfe und zwar in dem Maße, schreibt er, “daß ich darin ein ungemein bedeutungsvolles Merkmal sah für die Erhaltung des Lebens, den Fortbestand jeder Art und ihre weitere Evolution.” Obendrein bemerkte er, daß auch beim Menschen die gegenseitige Hilfe mehr die Regel als die Ausnahme war und dies besonders bei primitiven Stämmen und in den Dorfgemeinschaften. Aber auch in dem auf Zwang beruhenden bürokratischen Staat kam sie noch vielfach vor. Diese auf Zwang beruhenden stark zentralisierten Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts waren nach Kropotkin denn auch nur zeitliche und vorübergehende Erscheinungen in unserer westlichen Gesellschaft. Die überwiegenden Tendenzen der modernen Geschichte wiesen nach seiner Meinung in die Richtung “dezentralisierter a-politischer und genossenschaftlicher Gemeinschaften”, in denen der Mensch seine schöpferischen Fähigkeiten frei entwickeln können sollte ohne die Manipulationen von Herrschern, Priestern oder “Soldaten”. Am glücklichsten sollte der Mensch sein “in Gemeinschaften, die klein genug sind, um natürliche Impulse von Solidarität und gegenseitiger Hilfe zur Entfaltung zu bringen.”

Kropotkin konnte nicht wissen, was inzwischen die moderne Biologie ans Licht gebracht hat, nämlich daß die Evolution mehr auf die Gruppe als auf das Individuum gerichtet ist – wobei gleichwohl die Bedeutung des Individuums nicht verleugnet wird – und folglich innerhalb der Gruppe der Altruismus, die Selbstlosigkeit, als evolutionärer Faktor eine besondere Rolle spielt. Aber auch von Proudhon wissen wir schon, daß er die Gesellschaft als einen Bund ansah, der aus einer Vielfalt von Föderationen bestand. Und nach Landauer muß der Sozialismus die Ehre der Gemeinden retten, und “innerhalb dieser Gemeinden müsse das hergestellt werden, was die Gemeindemitglieder nötig haben” (Aufruf zum Sozialismus, 1911). Kropotkin selbst wollte zu einem System von untereinander unabhängigen – also autarken – wirtschaftlichen Regionen kommen. Hierbei wollte er den Unterschied zwischen Hand- und Geistesarbeit, zwischen Landarbeit und Fabrikarbeit soweit wie möglich aufheben. In seiner “Eroberung des Brotes” (Verovering van het brood, 1906) stellt er sich dann auch eine integrierte Gesellschaft vor, in der jedes Individuum ein Produzent sowohl von Hand- wie von Geistesarbeit ist, in der jeder gesunde Mensch ein Arbeiter ist, und in der jeder Arbeiter sowohl auf dem Lande wie auch in der Fabrik arbeitet. Dann soll arbeiten nicht länger einen “Fluch des Schicksals” bedeuten, sondern das werden, was es sein soll: “die freie Entfaltung aller Kräfte des Menschen”. In Anlehnung daran wird Landauer ausrufen: “Sozialismus ist die Rückkehr zur natürlichen Arbeit, zur natürlichen Einheit aller Aktivitäten, zum vollständigen Auswechseln dieser Aktivitäten, zur Gemeinschaft intellektueller und physischer, handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit”. Für ihn gilt denn auch, daß “nicht die Diktatur, sondern die Abschaffung des Proletariats unsere Losung sein muß”.

Diese Gedanken, die uns, vom konservativ-revolutionären Standpunkt aus, nicht so fremd in den Ohren klingen und die meilenweit entfernt sind vom heutigen “progressiven” kollektivistischen Staatssozialismus und Kommunismus, dürfen uns nicht vergessen lassen, daß der Anarchismus des 19. Jahrhunderts stark unter dem Einfluß des Denkens von J. J. Rousseau stand. So war Kropotkin denn auch der Meinung, daß “alles allen zukommt” und daß es “keinen Gedanken und keine Erfindung gibt, die nicht das gemeinschaftliche Erbgut der gesamten Menschheit” sind. Er wollte auch das Lohnsystem ersetzen durch ein Bedarfssystem und wollte, weil es “objektiv gesehen unmöglich ist, den Anteil jedes Arbeiters im Produktionssystem zu bestimmen”, daß jeder gleichviel verdienen sollte. Ein universalistisch-egalitaristisches Denken und ein Glaube an das angeborene Gute im Menschen, so wie Rousseau es voraussetzte, war hierbei nicht zu übersehen.

Religion, Marxismus und Wissenschaften
Feuerbach folgend erklärt Bakunin jede Form von Religion und Gott zu einem Werk und einem Wunschtraum des Menschen, wodurch dieser seinem wirklichen Mensch-Sein entfremdet wird. Nicht im abstrakten, metaphysischen Denken liegt die Wahrheit für den Menschen, sondern in seiner bestehenden Wirklichkeit, in der Gesamtheit des menschlichen Lebens. Bakunin will die Welt verändern auf der Basis eines empirischen Realismus, wodurch die abstrakte Befreiung des Menschen überflüssig werden soll. Die religiöse Entfremdung hat den Menschen zugleich seiner sozialen Umgebung entfremdet, und der Ausdruck davon ist der Staat. Die Überwindung dieser Entfremdung kann denn auch allein nur geschehen durch den Kampf gegen den Autoritarismus des Staates, gegen jede Form von “Theologie” oder das Jetzt widersetzt sich einer über den Menschen gestellten Gottesidee oder der Philosophie einer “absoluten Idee”. Von dieser Betrachtung aus wendet sich der Anarchismus gegen jede Form von Ideologie, von in sich geschlossenem Denksystem, mit ihren moralistischen Imperativen, die vorgeben, die absolute Wahrheit zu verkünden. Er richtet sich gegen die unbewußte Ursachen der Anhänglichkeit an religiöse, moralische und politische Ideologien, mit dem sich daraus ergebenden Selbstbetrug.

Stirner sollte sich, genau wie Nietzsche, vor allem gegen das Christentum wenden. Er fragte sich, was die psychologische Funktion der Religion sei. Warum, so fragt er, benötigt der Mensch Gott? Was treibt den Menschen dazu, Kosmologien zu entwerfen, um sich nachher darin einzusperren? “Stirner war erstaunt über den Fanatismus, mit dem die Menschen dem Christentum anhingen, in dem Maße namentlich, daß sie ihre eigene Individualität seinen Lehrsätzen unterordneten. Obendrein war er davon überzeugt, daß die christliche Religion eine Krankheit geworden war, die, statt dem Menschen leben zu helfen, ihn von der Möglichkeit eines ‚guten Lebens’ abgehalten hatte. (...) Er brauchte das Beispiel des Christentums, um die verwerflichen Folgen der Ideologie für ihre individuellen Anhänger zu zeigen, und für die Gesellschaft, in der sie leben” (John Carroll, op. cit.). Stirner sollte seine Kritik an der christlichen “Ideologie” ausweiten zu einer allgemeinen Analyse der Moral. Seiner Ansicht nach erzeugt die Moral – gemeint ist hier die christliche Moral – die Heuchelei. “Stirner glaubt, daß der Mensch total auf sich selbst ausgerichtet ist, aber aus dem einen oder anderen Grund von Schuld geplagt wird. Er versucht seinen Egoismus durch die Moral in Abrede zu stellen. Er suggeriert, daß Schuld und das Fehlen von Egoismus sich vertragen, und daß die Nicht-Egoisten moralischen Systemen anhängen, um ihr konstantes Bedürfnis zu befriedigen, sich selbst und ihre durch Schuld gekennzeichneten Taten zu verklären, zu entschuldigen und zu rechtfertigen.” (op. cit.)

Der Anarchismus wendet sich jedoch nicht allein gegen die christliche Ideologie und die christliche Moral, er wendet sich gegen jede monistische Wertehierarchie und betont hiermit den ethischen Relativismus, der unserer abendländischen Tradition eigen ist. Aus den gleichen Gründen, aus denen er sich gegen das Christentum wendet, wendet er sich auch gegen den “wissenschaftlichen Sozialismus” von Karl Marx. Proudhon sollte mit dem Marxismus brechen, weil er in ihm nichts anderes als einen neuen Dogmatismus sah. “Wenn das Christentum das System enthält, das den Verlust unserer Persönlichkeit oder die Aufhebung unserer Rechte als Mensch bedeutet, dann ist der Marxismus das System, das unsere Persönlichkeit zu opfern verlangt im Namen der Gesellschaft”, schreibt er. Und: “Laßt uns nicht die Entwerfer einer neuen Intoleranz werden, werfen wir uns nicht zu Aposteln einer neuen Religion auf, selbst wenn diese Religion die Religion der Logik sein sollte, die Religion der Vernunft.” Daher auch Proudhons Opposition gegen jeden Systematismus, sei er religiösen oder profanen Ursprungs. Seine Kritik richtet sich nicht allein gegen den religiösen, sondern auch gegen den weltlichen Messianismus.

Von Bakunin wissen wir bereits, daß er in der Welt keinen Platz für vorausbestimmte Pläne oder vorher vorauszusehende oder vorherbestimmte Gesetze sah. “Was ich predige”, sollte er schreiben, “ist der Aufstand des Lebens gegen die Wissenschaft, gegen den Mythos vom wissenschaftlichen Fortschritt, der die Menschheit dazu verleitet hat, zu denken, daß die Systeme der Erkenntnis, die die Wissenschaft aufgebaut hat, ohne den Menschen bestehen und sich entwickeln. Durch die Wissenschaft ist das wirkliche Leben ein unaufhörliches Opfer auf dem Altar der Abstraktion geworden.” Und vom Kommunismus sagt er: “Das ist keine freie Gesellschaft freier Menschen, sondern eine Herde Tiere, unter unerträglichem Zwang zusammengehalten und vereinigt durch Gewalt.” Für Landauer bestand, im Gegensatz zum Marxismus, die Geschichte der Menschheit aus einer Verkettung von einer Anzahl anonymer Prozesse und einer Aufeinanderhäufung von vielen kleinen Massenereignissen oder Nichtereignissen. Für ihn ist der Mensch im Wesen dynamisch und zukunftsgewandt, befruchtet durch eine Vergangenheit, die in fortdauernder Bewegung ist. Denn die Vergangenheit, fügt er hinzu – und wie fühlen wir uns hier eins mit Landauer –, ist nicht “etwas Fertiges, sondern etwas Werdendes”!

Nach Marx muß sich die Arbeiterklasse in einer politischen Partei organisieren und so die politische Macht erobern. Aber, so sagt Bakunin – und die Geschichte hat ihm recht gegeben –, “in dem Fall wird das Proletariat, oder besser diejenigen, die im Namen des Proletariats die sogenannte Diktatur des Proletariats ausüben, selbst eine herrschende oder ausbeutende Klasse werden”. Die erste Aufgabe einer revolutionären Arbeiterbewegung muß die Vernichtung des Staates sein, um danach durch ihre wirtschaftliche Organisation auf föderaler Grundlage die Gesellschaft zu organisieren.

Wenn Bakunin sich gegen die Wissenschaften wendet, dann tut er das nicht, weil die Wissenschaften und der damit einhergehende technische Fortschritt keinen nützlichen Beitrag zur Umformung der Gesellschaft leisten könnten; er ist der Meinung, daß die Gesellschaft in keinem Fall unter die Führung einer “Akademie der Gelehrten” geraten darf. Wissenschaftlicher Despotismus demoralisiert in einem noch viel größeren Maße als der Despotismus der Macht: Er korrumpiert das Denken des Menschen von Grund auf. Die erniedrigendste Sklaverei für die Menschheit würde eine Gesellschaft sein, regiert durch gelehrte Schulmeister. Die Wissenschaft, unentbehrlich für die menschliche Freiheit, kann wohl als Kompaß für das Leben dienen, aber sie ist nicht das Leben selbst. Nicht der Mann der Wissenschaften – der sich die Kenntnis verschaffen kann –, sondern das freie Individuum hat das Recht, Prioritäten zu setzen.

Mit dieser Ansicht über die Wissenschaft bringt Bakunin uns auf ein Problem, das aktueller denn je ist. Ob es stimmt, daß der Anarchismus wieder im Kommen ist, wie einige behaupten, wissen wir nicht. Aber wir merken, wie einige Möchtegern-Anarchisten und andere “grüne Jungen” sich gegen die Wissenschaften stellen und gegen den technischen Fortschritt (auch in Bakunins Zeit bezogen bestimmte anarchistische Gruppen diesen Schluß aus seiner Stellungnahme und sollten ein “Zurück zur Natur” predigen). Aber wo es um die Freiheit geht, was doch nichts anderes bedeuten kann als Unabhängigkeit von Zwang, von Willkür und von Zufall, wer wird da behaupten können, daß es nicht gerade die Wissenschaften und die Technologie gewesen sind, die uns “befreit” haben von all dem “natürlichen” Zwang, Willkür und Zufall? Ist der Mensch nicht gerade dadurch “Mensch” geworden, daß ihn seine “Wissenschaft” in die Lage versetzt hat, sich von der Natur durch Schaffung einer Kultur zu befreien? Bakunin schrieb seine Bedenken nieder in einer Zeit, in der als Reaktion auf den religiösen Dogmatismus der Rationalismus der Aufklärung zu einem neuen Dogma erhoben zu werden drohte. Mittels der Wissenschaft meinte man auf dem Weg zu sein, die absolute Wahrheit in bezug auf die Natur und den Menschen zu entdecken. Der “wissenschaftliche Sozialismus” von Marx und Engels war eine dieser Äußerungen eines solchen “Glaubens” an die Wissenschaften. Mit Recht konnte Stirner schreiben: “Je mehr Gott heruntergeholt wurde und je mehr er sich in der Menschheit verkörperte, desto intoleranter wurde unsere Gesellschaft.”

Bertrand Russel wird in unserer Zeit dem Marxismus einen Platz geben unter den großen Offenbarungsreligionen der Welt und M. de Lacharriere spricht von einer “Anthropotheologie”. Gerade gegen diese Intoleranz des absoluten Positivismus wehrt sich Bakunin in der Überzeugung, daß der Mensch mehr ist als das, was wissenschaftliche Abstraktion über ihn aussagen können. Es gibt, neben unserem “Wissen”, das wir durch unsere Wissenschaften erworben haben und das richtungsweisend sein kann für unsere weitere Entwicklung, den ganzen Fächer von Gefühlen, von Erleben, von angeborenen Beweggründen, die durch keine Wissenschaft erklärt werden können und die das menschliche Leben erst richtig lebenswert machen.

Die Wissenschaft hat uns mit der Atombombe das Mittel in die Hand gegeben, uns selbst zu vernichten. Ziemlich allgemein wird angenommen, daß es einzig die “Angst” ist, die uns vom rationellen Gebrauch dieser Waffe abhält. Aber ist nicht gerade die “Angst” eines von den Gebieten, denen die Wissenschaft nicht beikommen kann und die vielleicht zusammen mit der Zuneigung und der Liebe, aber auch mit dem Haß und der Abneigung einen Teil ausmacht von dem Urinstinkt, der, wenn es darauf ankommt, alles über allem daran setzt, um die “Art” zu erhalten? (Angst ist in diesem Sinne kein so schlechter Ratgeber wie man immer sagt, Panik dagegen wohl.) Solange wir uns nicht dem wissenschaftlichen Despotismus unterwerfen, sondern dem freien Individuum das Recht zuerkennen, die Prioritäten zu setzen, solange gibt es Hoffnung!

Revolution und Gewalt
Für Bakunin bedeutete Revolution die vollständige Vernichtung des Alten. Allein hierauf kann in der Geschichte das Neue entstehen. Denn “die Lust an der Vernichtung ist gleichzeitig eine schaffende Lust”. Das Ziel der Revolution ist die Organisation einer ganz neuen Gesellschaft, mit einer größtmöglichen Entwicklung von örtlichen, kollektiven und individuellen Freiheiten als Ergebnis. Aber “es ist unmöglich, eine Revolution künstlich ins Leben zu rufen; es gibt Perioden in der Geschichte, in denen Revolutionen einfach unmöglich sind; es gibt jedoch andere, in denen sie unvermeidlich sind. Verzweiflung und Armut sind nicht ausreichend, um eine soziale Revolution zu entfesseln. Sie können zu örtlichen Aufständen führen; nur wenn die Menschen durch eine universale Idee stimuliert werden, nur wenn sie eine allgemeine Vorstellung von ihren Rechten haben, kann eine Revolution ausbrechen. Man kann keine Vernichtung anstreben ohne eine mehr oder minder umrissene Vorstellung von der Gesellschaft zu haben, die die bestehende ersetzen soll (...). Deshalb die Bedeutung der gesellschaftlichen Analyse”.

Bakunin glaubte an die revolutionären Instinkte des Volkes, an die Spontaneität der Masse, aber er blieb dabei doch überzeugt von der Notwendigkeit einer bewußt handelnden Minderheit. Im Jahre 1864 gründete er eine geheime internationale Organisation bewußter Revolutionäre mit dem Ziel, die revolutionäre Entwicklung, die er nach dem Zusammenbrechen des Bonapartismus in Frankreich erwartete, in eine föderalistische antiautoritäre Richtung umzuformen und zu verhindern, daß nach der Revolution diktatorische Regime nach jakobinischem Modell entstehen. Ziel bleibt für ihn die Abschaffung des Staates als erste Vorbedingung für wirkliche Freiheit, Während Blanquisten und Jakobiner von einer blutigen Revolution träumten, basierend auf der Schaffung eines mächtigen zentralisierten Staates, die nach Bakunin die militärische Diktatur im Interesse der neuen Herrscher zur Folge haben würde.

Kropotkin glaubte nicht an geheime revolutionäre Genossenschaften, weil diese unvermeidlich den Gehorsam an einen revolutionären Diktator mit sich bringen Die Revolution muß für ihn eine soziale Revolution sein, eher ausgehend von den Massen als von einer politischen Partei oder Gruppe. Überdies muß diese so human wie möglich verlaufen, mit möglichst wenig Opfern und einem Minimum an gegenseitiger Verbitterung. Er rechtfertigte den Gebrauch von Gewalt, aber dies war eher eine Folge seines Mitleids mit den Unterdrückten als von Haßgefühlen gegenüber den Unterdrückern.

Stirner machte einen Unterschied zwischen der Revolution und der Revolte. Für ihn war die revolutionäre Tat irrelevant, weil sie einzig zu neuen Strukturen von organisierter Autorität führen würde. In der Revolte dagegen organisiert die Masse sich selbst, statt sich organisieren zu lassen. Der Anführer hat allein egoistische – im Stirnerschen Sinne – Ziele und keine gesellschaftlichen. Auch er mißbilligt die politischen Parteien. Selbst Oppositionsparteien, die er bloß “die Heimathäfen der Revolutionäre” nennt und die nicht mehr als Staaten innerhalb des Staates sind.

Die abweichendste Ansicht von anarchistischer Revolution war wohl die von Gustav Landauer. Für ihn ist die Revolution niemals beendet. Sie ist nichts anderes als eine gewaltige Bewegung, durch die von der einen relativen Stabilität zu der anderen relativen Stabilität umgeschaltet wird. Es gibt folglich niemals eine definitive Revolution. Obendrein befinden sich alle überwundenen Strukturen in einem Schlummerzustand und warten nur auf eine günstige Stunde, um wiedergeboren zu werden (vgl. seine Äußerung über die Vergangenheit, die niemals vorbei, sondern stets im Werden ist). Hierdurch zeigt die Revolution keinen Bruch mit der Vergangenheit, oder sie setzt keine Grenze fest. Die Revolution wird zu einem Prinzip erhoben (vg. Frans Boenders: De volle vrijheit, op. cit.). Wodurch sie, so fügen wir hinzu, das Aussehen einer “konservativen Revolution” bekommt.

Anarchistische Organisation
Nach dem führenden französischen Kommunisten Jacques Duclos ist der Anarchismus nichts anderes als eine Bande von Wüstlingen, die darauf aus ist, alles zu zerstören und die Gesellschaft in ein vollständiges Chaos zu stürzen. Proudhon ist das “lebende Beispiel für das, was wir heutzutage den Opportunismus von rechts und den Opportunismus von links nennen” (Anarchistes d’hier et d’aujourd’hui, Verlag Editions Sociales, Paris 1968). Zwar hat Proudhon gesagt, daß Eigentum Diebstahl ist, aber er hat nicht deutlich gemacht, was er darunter versteht. “Unter dem Vorwand das Individuum zu beschützen, rechtfertigte er das Bestehen des kapitalistischen Systems, das auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht.” (ebenda) Die Soziale Allianz von Bakunin – seine geheime revolutionäre Organisation – war nach Duclos nichts anderes als “eine Ansammlung von berufsmäßigen Provokateuren, Agenten des Bonapartismus und asozialen, deklassierten Elementen, kurzum dasjenige, was Marx das Lumpenproletariat nannte.” Nach der 1. Internationale, in der auch Marx und Engels Sitz hatten, ersetzte der Anarchismus “den ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiter für ihre Emanzipation durch eine alles vernichtende Aktion des Ausschusses der Zuchthäuser, ... die wohl die letzte Inkarnation dessen darstellte, was man unter Revolution verstehen konnte”. (vgl. J. Duclos, op. cit.)

Bestehend aus den durch die Marxisten verdammten “Verdammten dieser Erde”, dem Ausschuß der Gesellschaft, darauf aus alles zu vernichten und das vollständige Chaos zu hinterlassen, so sieht die traditionelle Linke den Anarchismus. Das ist auch das Bild, das in unserem alltäglichen Sprachgebrauch durch den Begriff Anarchie und Anarchismus geweckt wird. Ein gutes Beispiel für das, was kommunistische Semantik vermag. Ein anderes Beispiel für kommunistischen Wortmißbrauch und Wortumbildung ist der Begriff Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), die heutige offizielle Bezeichnung Rußlands. Es gibt nämlich seit langem im kommunistischen Rußland keine Sowjets, keine Räte mehr. Die ersten Räte, das sind die unabhängigen freien Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, wurden in Rußland durch Anarchisten eingerichtet und zwar nach dem anarchistischen Organisationsprinzip. Mit der Ausrottung der Anarchisten im kommunistischen Rußland wurden auch die Räte abgeschafft und ersetzt durch kollektive Fabriken und Kolchosen unter zentralistischer Staatsverwaltung und durch das am hierarchischsten strukturierte und auf Kadavergehorsam beruhende Heer.

Tatsächlich wollten die Anarchisten die Vernichtung des Alten, aber aus diesem Chaos sollte die neue Gesellschaft entstehen und die Kernstrukturen davon sollten die Räte werden, die auf freier Grundlage wirkenden Föderationen von Arbeitern, Bauern und Soldaten. Der nach der Revolution geflohene russische Anarchist Wolin beschreibt die anarchistische Organisation wie folgt: “Jede Revolution verläuft mehr oder minder spontan, folglich verworren und chaotisch. Es ist selbstverständlich, daß sie nicht in diesem primitiven Stadium steckenbleiben darf und deshalb muß nach den ersten Siegen so schnell wie möglich eine Organisation kommen. Aber diese Organisation, die von da an möglich ist, muß in voller Freiheit zustande kommen, sie muß sozial sein und vor allem muß sie von der Basis ausgehen. Das Prinzip der Organisation darf jedoch nicht ausgehen von einem schon vorher ins Leben gerufenen Zentrum, das sich aufdrängt und das Ganze mit Beschlag belegt. Es muß im Gegenteil ausgehen von möglichst vielen einzelnen Punkten, um von hieraus Knotenpunkte der Koordination zu bilden, als natürliche Zentren, die dazu bestimmt sind, alle diese Punkte zu bedienen. Voraussetzung ist, daß diejenigen, die über das notwendige Organisationstalent verfügen, die Befähigten also – die Eliten – ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Aber auch dann unter allen Umständen muß dieses Zur-Verfügung-stellen auf einer freien Teilnahme an dem Gemeinschaftswerk beruhen, es muß beruhen auf dem Mitarbeiten und nicht auf dem Geben von Befehlen. Vor allem sollen die ‚Eliten‘ Vorbild sein und Kenntnisse vermitteln, ihre Fähigkeiten und ihr Talent benutzen, um aus ihrem freien Willen dazu beizutragen, die Initiativen zu gruppieren und zu koordinieren, ohne selbst anzufangen zu herrschen, zu unterdrücken oder zu unterwerfen.

Die Arbeitermasse selbst ist es, die, mittels ihrer verschiedenen Klassenorganisationen (Fabrikkommitees, industrielle und landwirtschaftliche Syndikate und Genossenschaften usw.), föderalisiert und zentralisiert nach den wirklichen Bedürfnissen, überall und dies an Ort und Stelle, sich die Lösungen und die Konstruktionen der Revolution angelegen sein lassen muß. Durch ihre freie und bewußte Aktion müssen sie dazu kommen, ihre Kräfte zu bündeln und über das Land auszubreiten. Und was die ‚Eliten‘ betrifft, soll ihre Rolle vornehmlich darin bestehen, der Masse zu helfen: sie zu belehren, sie aufzuklären, ihr mit Rat und Tat beizustehen, sie zu bestimmten Initiativen anzuspornen, ihr das Beispiel zu geben und ihre Aktionen zu unterstützen, aber in keinem Fall sollen sie die Herrschaft über sie ausüben dürfen.

Die Lösungen der sozialen Revolution können einzig das Ergebnis des freien, verantwortungsvollen, kollektiven und solidarischen Werkes von Millionen Menschen sein, die in ihrer großen Verschiedenheit von Sehnsüchten und Interessen, ihrer Ideen, ihrer Kräfte und ihrer Möglichkeiten, ihrer Berufskenntnisse und ihrer Lebensweise, jeder das seine dazu beitragen sollen. Durch das natürliche Spiel ihrer ökonomischen, technischen und sozialen Organisationen, und mit Hilfe der “Eliten” und unter dem Schutz ihrer frei organisierten Heeresmacht, sollen die Arbeitermassen die soziale Revolution vorwärtstreiben, um nach und nach zur praktischen Realisierung ihrer Branchen zu kommen.” (Voline, La révolution inconnue, Verlag Pierre Belfond, Paris 1969)

Schlußbetrachtungen
Wir haben diese Erörterung über den Anarchismus eine “kritisch-positive Betrachtung” genannt. Positiv, weil in dieser Zeit zunehmender Verstaatlichung und kollektivistischer Nivellierung des Individuums, und dies sowohl im “kapitalistischen” wie im “sozialistischen” System, das individualistische und zugleich doch sozialbezogene Denken der tonangebenden anarchistischen Theoretiker frisch und befreiend anmutet und uns darum wert erscheint, darüber nachzudenken. Kritisch, weil wir der Meinung sind, daß der Anarchismus als System von verkehrten Voraussetzungen ausgeht, dadurch daß alle seine Denker vom Rousseau‘schen Glauben an das ursprüngliche und angeborene Gute im Menschen ausgehen. Als System ist der Anarchismus aufgebaut auf der inzwischen mehr als ausreichend widerlegten Milieutheorie: verändere die Umwelt, das ist die Gesellschaft, und die “Güte” des Menschen wird von selbst wieder zum Vorschein kommen. Die Geschichte der Menschheit, die der Ausdruck ihrer soziobiologischen Evolution ist, läßt uns ein anderes Menschenbild erkennen.

Und doch, wenn wir sehen, wie Bakunin sich nicht nur gegen den religiösen, sondern auch gegen den rationalistischen Dogmatismus wehrt; wie Stirner den Nachdruck legt auf die individuelle Freiheit als notwendigen Faktor für den Menschen, um sich selbst zu übertreffen, und wie gleichzeitig der Anarchismus die individuelle Verantwortung betont; wenn wir sehen, wie Kropotkin den in der Natur herrschenden Gruppenaltruismus betont und Landauer – genau wie Nietzsche – die “ewige Wiederkehr” herausstellt, wodurch die Vergangenheit niemals aufhört, im Heute anwesend zu sein; wenn wir das alles sehen, dann fragen wir uns, ob das “andere” Menschenbild, das wir vertreten, nicht schon als “Embryo” im Denken dieser Anarchisten vorhanden war.

 

Anmerkungen:

 1 Ein Irrtum de Hoons (oder des Übersetzers): Stirners Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ – sein einziges – erschien ziemlich genau zu der Zeit, als Nietzsche geboren wurde: Ende Okt. 1844 (im Impressum steht 1845) – Anm. nA

 2 Die aus Rußland stammende amerikansiche Philosophin Ayn Rand, Begründerin des “Objektivismus”, ist in Deutschland fast unbekannt. In der Brockhaus-Enzyklopädie ist ihr Name beispielsweise gar nicht zu finden. Die JF-Studie “Arbeitsweise der Neukonservativen Bewegung in USA” von Heinz-Dieter Hansen (Junges Forum Nr. 2+3/72, Juni 1972) erwähnt sie nur kurz. Die Zeitschrift Criticón veröffentlichte einen größeren Aufsatz: “Ayn Fand – eine Philosophin des Ultra-Liberalismus” von H. Joachim Maitre (Criticón Nr. 11, Mai/Juni 1972); dort findet sich auch eine Liste ihrer Werke. Das oben zitierte Buch erschien 1967 unter dem Titel “Capitalism: The Unknown Ideal” (New American Library)

 3 Vgl. dazu Reinhold Oberlercher, Reichsverfassungsentwurf, Art. 15, “Das Proletariat ist aufgehoben...” – Anm. nA

 

Quelle:

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Teksten, Kommentaren en Studies (Nr. 26, Febr. 1982); die deutsche Übersetzung in Junges Forum Nr. 3/1982; Sommer 1982. Für denjenigen, der sich für weitere Blicke von Neurechten bzw. Revolutionärkonservativen auf den Anarchismus interessieren, vermerkt die JF-Redaktion: “Zum Thema ‚Anarchismus aus ‚rechter‘ Sicht‘ verweisen wir als Ergänzung auf den Artikel von Pierre Vial über Pierre-Joseph Proudhon in Eléments pour la civilisation européenne (Nr. 37, Januar/März 1981), der Zeitschrift der französischen Neuen Rechten und auf das Porträt von Gerd-Klaus Kaltenbrunner über Michail Bakunin (in Kaltenbrunner: Europa – seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden, 1. Band, Glock und Lutz Verlag); vgl. Besprechung in JF Nr. 5+6/80-81.K