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Daniel Ganzfried: Binjamin Wilkomirskis «Bruchstücke», das derzeit erfolgreichste Schweizer Buch, ist eine Fiktion (Weltwoche Nr. 35/98, 27.8.1998)
Die geliehene Holocaust-Biographie Kommt einer und behauptet, er sei im Innern der Hölle gewesen, fühlen wir gedankenlos mit. Er nimmt uns die Aufgabe ab, Auschwitz zu
verstehen.
Ein Kind kommt im Alter von zwei bis drei Jahren ins Räderwerk der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, überlebt Majdanek, Auschwitz, überlebt die
ganze Fahrt durch das Horrorlabyrinth und wird schliesslich an die Gestade des Zürichsees gespült, wo es das Erlebte bei sich behält, bis es als längst erwachsener Mann zu schreiben
beginnt. Das Manuskript landet bei der angesehenen Zürcher Literaturagentur Liepman und erscheint schliesslich unter dem Titel «Bruchstücke, aus einer Kindheit 19391948» 1995 im
jüdischen Verlag bei Suhrkamp.
Seither steht Binjamin Wilkomirski im Licht der Öffentlichkeit. Dies Kind, ein Mensch aus Fleisch und Blut, geht um die Welt. Übersetzungen in
mehr als ein Dutzend Sprachen, bis jetzt drei Filme, ein Theaterstück, gelehrte Abhandlungen, unzählige Features und Rezensionen nichts fehlt, um vor dem grossen Auftritt
der literarischen Schweiz in Frankfurt noch einmal auf dieses seit Jahren erfolgreichste Buch aus unserem Lande hinzuweisen. Vergleichbar ist ihm vielleicht noch Zoë Jennys
«Blütenstaubzimmer», ein anderes kleines Büchlein, das einige Jahre später im selben Verlag erschien. Aber es wurde immerhin als Roman rezipiert, was es im Bereich der Unschuld
belässt.
Wir lesen «Bruchstücke» und sind erregt von der Brutalität des Beschriebenen, aber auch etwas abgestossen: Ratten fressen sich aus toten Leibern ins Freie, zertrümmerte
Kinderschädel verspritzen Gehirnmasse über schlammigen Schnee, ein Vater speit Blut im Bogen aus, als er vom Fahrzeug zu Tode gequetscht wird, und zwei sterbende Kinder nagen sich Hungers
ihre schon erfrorenen Finger bis auf die Knochen ab.
Alles eine antisemitische Verschwörung? Solche Episoden müssen jeden Leser ins Herz treffen, da kann für den Autor nichts
schiefgehen, denken wir, lesen weiter und wehren die Schalheit ab, die uns zwischen der Grobheit der Darstellungen und dem poesiealbumhaften Pathos der Sprache befällt. Als würde
hier einer ohne jedes eigene Zutun beschreiben, was ihm aus einem abscheulichen Bildband mit schlechten Kommentaren entgegenschlägt.
Die Anteilnahme an diesem Schicksal, das der Autor
als sein eigenes reklamiert, will Fragen verbieten. Wir möchten das Büchlein ins Gestell verbannen, Abteilung Holocaust. Aber ein Vorbehalt lässt sich nicht beiseite drängen: In welchem
Grund wurzelt die hier wiedergegebene Erinnerung eines Mittfünfzigers an seine früheste Kindheit?
Ein Schlusswort «zu diesem Buch» hält fest, dass er keine Geburtsurkunde
habe, nur einen «behelfsmässigen Auszug», der den 12. Februar 1941 als Geburtsdatum angibt. Die Dokumentarfilme klären nichts, ebensowenig die schriftlichen Publikationen. Auch
nach unserem mehr als siebenstündigen Gespräch mit dem Autor in seinem lieblich renovierten Thurgauer Bauernhaus ist keine unserer Fragen beantwortet. Wer ist Binjamin Wilkomirski?
Das Produkt eines kreativen Aktes von Bruno Doessekker, wie er bürgerlich heisst und an seinem Briefkasten angeschrieben steht, genährt mit historischer Recherche? Oder tatsächlich das
Kind aus Riga, der Tötungsfabrik entronnen?
In einem Vortrag am Psychoanalytischen Seminar Zürich, Anfang dieses Jahres gehalten und ab Tonband zu hören, begegnet uns
Wilkomirski als Vertreter einer therapeutischen Methode, der «interdisziplinären Therapie». Sie will Menschen ohne gesicherte Identität «therapieren», indem sie Erinnerungsfetzen ans Licht
hebt, ihnen passende Fakten und Örtlichkeiten aus der realen Geschichte beifügt. Auf diese Weise soll eine eigene Lebensgeschichte, Identität inklusive, zurückgewonnen
werden.
Auf die naheliegende Frage, wie Fiktion und Faktizität, die beiden Bestandteile einer jeden erzählten Erinnerung, voneinander unterschieden werden, warten wir vergeblich. Das
Publikum, in der Mehrheit immerhin ausgebildete Analytiker, zog es vor, erschauert zu schweigen, wie uns verschiedene Teilnehmer der Veranstaltung bezeugen. Tage später, bei unserer
Begegnung, bietet Wilkomirski folgende Theorie an: Die traumatische Erinnerung bewahre glasklar in der Seele, was sich einst, selbst im jüngsten Kindesalter, zugetragen
habe.
Wir sitzen mit Binjamin Wilkomirski am Tisch. Wohin das Auge blickt Judaica: Wandbehänge mit biblischen Motiven, Mesusot (Türkapseln) an jedem Durch- und Eingang, Davidsterne
und Bilder aus dem Heiligen Land. Uns ist, als könne jederzeit ein Rabbiner vorbeikommen, um das Glaubensbekenntnis seines Konvertiten zu überprüfen. Ein beeindruckendes Archiv scheint zu
bezeugen, dass der Mann, ausgerüstet mit allen Mitteln der modernen Kommunikation, es ernst meint mit der Erforschung historischer Faktizität. Auf unsere Fragen nach dem schweizerischen
Teil seiner Vita Jahreszahlen, Heimatgemeinde, Aufenthaltsort, bevor er nach Zürich kam, Fotomaterial aus seiner Kindheit begnügt er sich mit
einer Verschwörungstheorie.
Nur soviel: Ein Komplott aus antisemitischen schweizerischen Gemeindebeamten, kaltherzigen Pflegeeltern und korrupten Behörden soll dem Kind durch
eine gefälschte Identität seine jüdische Herkunft ausradiert und dem Heranwachsenden unter Androhung von Strafe Mund und Seele versiegelt gehalten haben. So wurde der Holocaust an ihm
schliesslich doch noch vollendet, durch die Schweiz, denken wir und es passt uns allzu wohlfeil in die aktuelle schweizerische Geschichtstrunkenheit. Wir geben zu, dass wir einiges nicht
glauben, und ziehen von dannen, denken aber, eine genauere Recherche würde sicher auch ihm helfen, seine Geschichte zu belegen. Wir treffen Bekannte von Bruno Doessekker aus der Schulzeit.
Sie zeigen uns Fotografien, erzählen Geschichten. Alles in allem gewinnen wir den Eindruck eines wohlerzogenen, in grosszügigem Elternhaus aufwachsenden, von einer ihn abgöttisch liebenden
Mutter und einem etwas steifen Vater umsorgten jungen Bruno Doessekker. Zwei Talente sind schon früh aufgefallen: Er musiziert mit Verve und erfindet hie und da absonderliche Geschichten,
die sich als Legende entpuppen.
Der Junge hat erste Freundinnen. Keine von ihnen kann uns bestätigen, dass er damals beschnitten war. Aber das heisst nichts, viele Kinder wurden damals
nicht mehr beschnitten. Auch dass er ein begeisterter Skifahrer war, auf und neben den Pisten, besagt sowenig wie alle übrigen Episoden, die ein ganz anderes Bild des jungen Bruno ergeben,
als dieser es in Buch und Gespräch erzeugt. Zum Beispiel soll er sich angesichts eines Skiliftes zu Tode erschreckt haben, weil er ihn an die Leichenkarren in die Verbrennungsöfen erinnert
hätte. Die Fotografien, die wir sehen, nachdem er uns keine einzige zeigen konnte, hinterlassen das Bild eines schönen jungen Menschen mit gewelltem Haar, sanften Augen, ganz auf der Höhe
der Moden seiner Zeit.
Immer noch räumen wir der Möglichkeit, der Mann habe seine Geschichte tatsächlich erlebt, jeden Spielraum ein. Wir sind zuversichtlich, dass in einem
Land wie der Schweiz kaum jemand aufwächst, ohne diverse Spuren zu hinterlassen, die sein Leben einigermassen schlüssig zurückverfolgen lassen.
Wir sind aber auch erstaunt, dass
Wilkomirski alias Doessekker diesen Spuren nicht schon selber nachgegangen ist.
Dieser Zeuge war nie in der Hölle
Und sind mehr als erstaunt, als er sich bald telefonisch
und schriftlich drohend gegen weitere Nachforschung verwahrt. Vom Suhrkamp-Verlag erfahren wir, Wilkomirskis Schweizer Anwalt habe schriftlich bestätigt, es sei unmöglich, Bruno
Doessekkers Identität bis zur Geburt zu sichern. Uns sagt der Anwalt, Herr Wilkomirski selber habe auf die Akteneinsicht bei den Ämtern verzichtet. Für ihn als Anwalt sei damit die Sache
erledigt gewesen. Offenbar auch für den Verlag, dem dieses sein Schreiben genügt hat.
Im Zürcher Stadtarchiv stossen wir auf das erste Dokument, das uns stocken lässt. Bruno Doessekker
wurde am 22. April 1947 an der Primarschule Zürich Fluntern in der ersten Klasse eingeschult. Er hatte im ersten Jahr 25 Absenzen und gab in keinem der folgenden Jahre Anlass zu
Bemerkungen der Lehrkräfte.
1947? Wir erinnern uns. In einem der Filme («Das gute Leben ist nur eine Falle, ein Besuch bei B.W.», Eric Bergkraut, 3sat) wird festgehalten, dass
Wilkomirski erst ab 1948 in der Schweiz lebte. Wir lesen sein Buch erneut: Die Begebenheiten, die er aus der Nachkriegszeit als eigenes Erleben in Polen schildert, lassen es schwerlich zu,
dass er 1947 in der Schweiz zur Schule ging. Doch wir wollen uns nicht schon festlegen. Nur ist da noch dieser Altersunterschied von drei Jahren, den er auf alle seine Klassenkameraden
gehabt hätte. Niemandem fiel etwas auf, sowenig wie an seiner Sprache Zürichdeutsch ohne Wenn und Aber. Drei Jahre sind in einem Kinderleben viel, im Alter von sechs bis sieben fast die
Hälfte des gelebten Lebens, sagen wir. Ein Foto zeigt uns den jungen Bruno sogar schon im Sommer 1946 im Kreise seiner Nächsten putzmunter vor der Villa am Zürichberg. Es wird langsam knapp
im Buch, aber noch neigen wir dazu, im Grundsatz zu glauben. Unterdessen treffen weitere Interventionen ein. Wilkomirski und eine ihm offenbar sehr verbundene Aktion Kinder des Holocaust
bitten schriftlich und mündlich, von weiteren Recherchen abzusehen. Wilkomirskis ohnehin beeinträchtigte Gesundheit als Auschwitz-Überlebender würde dadurch weiter geschädigt.
Wir entschliessen uns zur Diskretion, nachdem uns der Name seiner Heimatgemeinde aus den Akten bekannt wurde: 2732 Saules bei Tavannes. Die vorläufigen Umrisse der Geschichte geben
folgendes Bild: Am 12. Februar 1941 gebar Yvonne Berthe Grosjean in Biel ein uneheliches Kind. Name: Bruno Grosjean, Heimatort: Saules bei Tavannes, Kanton Bern. Der Bruder von Yvonne
Grosjean möchte sich um den Kleinen kümmern, kann aber nicht verhindern, dass Bruno vorübergehend in ein Kinderheim nach Adelboden kommt und 1945 zur Adoption freigegeben
wird.
Herr und Frau Doessekker, ein Ärzteehepaar aus Zürich Fluntern, kinderlos, erhalten das Kind vorerst zur Pflege. Vor der Einschulung am 22. April 1947 in die Primarschule
Fluntern wird ein Gesuch um Namensänderung bei den kantonalbernischen Behörden eingereicht. Nach dessen Bewilligung heisst Bruno nicht mehr Grosjean, sondern Doessekker, wie seine
Pflegeeltern. Bruno Doessekkers leiblicher Vater, der später noch Kinder hatte, bezahlte Unterhaltsbeiträge, bis 1957 die Adoption rechtskräftig wird. Frau Grosjean heiratet später einen
Walter Max Rohr, heimatberechtigt in Hunzenschwil, Aargau, und starb 1981, kurz nach ihrem Ehemann, in Bern, wo sie auf dem Bremgartenfriedhof in einem Urnengrab bestattet wurde. Bruno
Doessekker machte am Freien Gymnasium Zürich die eidgenössische Matur, wurde Musiker und Instrumentenbauer, Vater von drei Kindern. Da seine leibliche Mutter keine weiteren Kinder
hatte, fiel ihr Nachlass an ihn, der das kleine Erbe wohl antrat. 1985 starben auch seine Adoptiveltern. Seither lebt Bruno Doessekker in Wohlstand. Auch wenn er seine Türschilder mit der
neuen Identität beschriftet Binjamin Wilkomirski ist ein Pseudonym, sein Träger war nie als Insasse in einem Konzentrationslager.
All dies musste mit grossem Recherchieraufwand
herausgefunden werden, weil Wilkomirski alias Doessekker die Einsicht in die betreffenden Akten nicht gestattet, was als Privatmann sein gutes Recht ist, aber auch bestätigt, dass er
tatsächlich von den Akten betroffen und Geheimnisherr in Sachen der verstorbenen Frau Grosjean ist. Die Veröffentlichung seines Buches und seine Vortragstätigkeit aber machen den
Privatmann Doessekker zur öffentlichen Figur Wilkomirski, die sich Fragen derselben Öffentlichkeit zumindest gefallen lassen muss.
Unsere Recherche lässt keinen andern Schluss mehr zu:
Wilkomirski ist in der Schweiz geboren, in bestem Zürcher Hause aufgewachsen. Sein Buch wäre als Roman diskutierbar. Es entbehrt nicht der historischen Sorgfalt. Schliesslich hat der
Autor, wie uns erzählt wurde, in Genf Geschichte studiert, ein Lizentiat über die Konferenz von Evian angefangen und Geschichte weiterhin aus Leidenschaft betrieben, was sein immenses
Archiv bezeugt. Nun beansprucht sein Buch aber explizit Zeugenschaft.
Wir versuchen seinen schreibenden Akt zu verstehen, der offenbar so weit ging, dass sich der Autor eine
Romangestalt mit Haut und Haaren einverleibt hat.
Irgendwo auf der Grenzlinie zwischen Fiktion und Geschichtsforschung muss ihm die Distanz zu seinem erschriebenen ich eingestürzt
sein, so dass er ich wurde. Wilkomirski alias Doessekker ist kein Schriftsteller. Sein Bericht bewegt sich nicht im Reich der Literatur. Er ist wahrscheinlich die verinnerlichte
Bildersammlung eines Menschen, dem die Phantasie durchgebrannt ist ganz unabhängig davon, ob es einen Wilkomirski gegeben haben könnte, von dem Doessekker die Grundzüge seiner
Lebensgeschichte im KZ entlehnt hätte.
Aber das erklärt nicht den überwältigenden Erfolg. Es erklärt nicht, weshalb jedes ernstzunehmende Feuilleton dieses Buch gefeiert
hat, als handle es sich um die Originalniederschrift des Alten Testaments. Es erklärt auch nicht, dass die halbe Psychoanalytikergemeinde von Zürich bis Israel sich so
weit irreführen lässt, dass sie dem Glauben verfällt, statt beharrlich nachzufragen. Es erklärt nicht, wie allein in der Schweiz zwei Filme gedreht werden konnten, beide auch mit
öffentlichen Geldern finanziert, die vorgeben, Dokumentarfilme zu sein, und der Figur des Binjamin Wilkomirski folgen, ohne auch nur einen Fakt aus dem Leben des Bruno Doessekker zu
klären.
Na und?, kann man einwenden, wenn es gut erfunden ist? Karl May sei auch nie bei den Apachen gewesen, sein Häuptling Winnetou nichts als eine Überhöhung damals vorherrschender
Gesamttugenden, was die Bücher ja nicht schlechter mache. Und wenn ein Buch über ein Kinderschicksal aus dem Konzentrationslager diese Fülle an Mitgefühl provoziert, so mag es ebenso zur
Erhebung seiner Leser beitragen. Nur: Karl May hat mit dem Häuptling der Apachen, mit Kara Ben Nemsi und wie sie alle heissen, literarische Figuren geschaffen, die jederzeit als solche
erkennbar sind. Bruno Doessekker/Wilkomirski hat nichts zustande gebracht als ein Ich, das jede Frage nach der literarischen Qualität zu verbieten scheint.
Die Realität der
Konzentrationslager dient ihm als Rohmaterial für eine fiktive Biographie. Spätestens bei Erscheinen seines Buches und dem überraschenden Echo muss er sich entschlossen haben, der
Mitwelt gegenüber zu verkörpern, was er sich ausgedacht hat. Seine Kreativität beschränkt sich auf die mimetische Schauspielkunst. Wo Winnetou heute auf einer Freilichtbühne in Bayern
auftritt, weiss jedes Kind, wie der Schauspieler heisst. Bei Wilkomirski aber, der auf vielen Bühnen tanzt, verhält es sich anders. Er hält Vorträge, bietet seine Dienste als Experte für
Rückgewinnung von Identität an, nimmt Gelder öffentlicher Institutionen entgegen alles unter der Voraussetzung, dass er der ist, für den er sich ausgibt. Tritt er wieder ab, meinen zum
Beispiel die Schüler an einer Zürcher Kantonsschule, sie hätten mit eigenen Augen einen gesehen, der leibhaftig aus der Hölle zurückgekommen ist. An die Hölle glaubten sie
nie.
Aber nun müssen sie erfahren, dass auch der Zeuge falsch war. Bald glauben sie gar nichts mehr, und morgen schon neigen sie dazu, dem zu glauben, der ihnen erzählen will, dass
Auschwitz nur ein Arbeitslager war, wo leider auch ein paar Insassen zuviel gestorben seien. Gerade vor der Faktizität der Todesfabriken, von den Nazis so angelegt, dass niemand ihre
Existenz je für möglich halten würde, kommen der Zeugenschaft und dem Vertrauen, das die Nachwelt in sie haben können muss, eine besondere Verantwortung zu. Es erscheint menschlich, dass
man einem, der aussagt, im Innern der Hölle gewesen zu sein, um so mehr glaubt, als er durch seine Person so plastisch bezeugt, was sich unsere Gedanken niemals anzueignen vermögen.
Er nimmt uns die Aufgabe des Nachdenkens und die erschütternde Erfahrung des Versagens unseres Menschenverstandes vor dem Faktum Auschwitz ab.
Wir benützen das Erleben des
andern, um nicht denkend wettmachen zu müssen, was sich der Vorstellungskraft entzieht. Gedankenlos mitleidend, finden wir im Opfer den Helden, mit dem wir uns auf der Seite der Moral
verbrüdern können: Binjamin Wilkomirski. Wer uns dies ermöglicht, braucht mehr nicht zu leisten, als sich vor das Eingangstor nach Auschwitz zu stellen: «Ich bin derjenige, der von dort
kommt!»
Es mag erstaunen, wie billig sich die Rezipienten und Multiplikatoren in Film und Literatur abspeisen lassen. Dass ihnen aber vor einem Konstrukt wie Wilkomirskis
Lebensgeschichte nicht nur die Freiheit zu fragen, sondern auch der Mut des eigenen Urteils abhanden kommt, muss erschrecken. Mit dieser Urteilsunfähigkeit bleibt auch der Anspruch auf
Qualität auf der Strecke was die einmütig überhöhte Meinung zu Wilkomirskis und anderer schlichtwegs schlechter Produkte hiesiger Literatur und Kunst belegt.
Dass Auschwitz nun aber
als Fundus der Lebenslüge von Leuten dient, die in ihrer Wohlstandsbiographie zuwenig Erzählenswertes finden, um daraus eine Legende zu spinnen, und dabei nach Gutdünken
des Kulturbetriebes zur Verwurstung abgetragen wird wie im vorliegenden Fall: das muss zur couragierten Gegenwehr bewegen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass erst die Leichtgläubigkeit
vieler, die nur das Beste für ihren Opferhelden Wilkomirski wollten, Bruno Doessekkers Wilkomirski-Kreation zum Wahn verführt hat, man könne sich die exotische Lebensgeschichte eines
jüdischen Kindes aus Riga überstreifen und fortan mit der faszinierenden Identität des Leidgeprüften durchs Leben gehen.
Mitleid ersetzt das Denken Bruno Doessekkers
Pseudologie fiel in eine Welt, die sich emsig damit beschäftigt, die Wundmale ihrer Geschichte mit Prothesen und Narkotika zu heilen. Wer will, schlägt sich auf die Seite der Gläubigen, wo
unter mitleidsüchtiger Anteilnahme die schwärende Wunde Auschwitz im Körper der Menschheit schmerzlos weiter fault. Hier ist Mitleid ein erhebendes Gefühl. Es hilft über
manchen menschlichen Abgrund, bringt uns den andern zwar nicht näher, aber uns wenigstens näher zu ihm hin.
Wenn Mitleid, die letzte Tugend des guten Menschen, über den
Abgrund von Auschwitz zu verführen beginnt, so schwindet genau das, was am Faktum selber den weltabgewandten Charakter und in der Folge die Schwierigkeit des Erinnerns ausmacht: die
Bodenlosigkeit. Die industrielle Massentötung, das Zentrum des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, verschwimmt zur Episode. Menschlichkeit füllt den Graben, vor dem unserem
Verstand nur grauste, wäre der Versuch zu verstehen nicht immer wieder ein Akt des Widerstandes: gegen jenen Ort der Stille, der auf unser Nicht-Verstehen angelegt war und wo das
Experiment der totalen Herrschaft in Erfüllung ging, während rundherum die Welt im Geschäft des Krieges abgelenkt war. Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker aber kennt Auschwitz
und Majdanek nur als Tourist.
weitere Entwicklung in der Affäre Wilkomirski:
Binjamin Wilkomirski Bestrafung gefordert ZÜRICH. Der Schweizer Autor Daniel Ganzfried hat eine Bestrafung seines Kollegen Binjamin Wilkomirski gefordert, weil dieser sich in dem autobiographischen Buch
Bruchstücke fälschlicherweise als Holocaust-Überlebender darstellte. Der Suhrkamp Verlag hatte das Buch im Oktober vom Markt genommen. "Die Betrogenen müssen ein Zeichen setzen, dass es ihnen nicht
gleichgültig ist, ob sie in Sachen Holocaust zu Komplizen von Fälschungen, Lügen und Betrug gemacht werden", schreibt Ganzfried, der den Skandal aufgedeckt hatte, in der Schweizer
Weltwoche.
Ganzfried fordert nun nicht nur vom Suhrkamp Verlag eine deutlichere Distanzierung von Wilkomirski, sondern auch von den jüdischen Organisationen, die sich hinter den angeblichen
Holocaust-Überlebenden gestellt und ihm Preise zugesprochen hätten. dpa FR/Feu, Sa-6.11.1999 ========================================== WELTWOCHE/Schweiz Ausgabe Nr. 44/99,
4.11.1999
Simulierter Schrecken Fall Wilkomirski: Der Skandal weitet sich aus Von Ludwig Hasler Manchen ereilt in seiner Belanglosigkeit der Horror vacui. Bruno Doessekker schon gar. Deshalb
schlüpfte er in die Leidensbiografie Binjamin Wilkomirskis. Ein der Hölle Auschwitz Entronnener ist in unserer schreckenslüsternen Öffentlichkeit ganz einfach das Interessanteste. So weit, so bekannt. Doch
nun fand der eingebildete Jude eine Schicksalsgefährtin, Laura Grabowski, die, wie er, Auschwitz überlebt haben will. Weshalb sich die beiden wechselweise probat als Kronzeugen ihrer Geschichten
dienen können. Nur dass Laura Grabowski, die als Shoa-Opfer gewinnbringend durch Amerika tourt und pikanterweise vom Schweizerischen Holocaustfonds «entschädigt» wurde, in Wirklichkeit Lauren Stratford
heisst und als Kind so wenig im KZ war wie Doessekker. Das betrügerische Geschäft mit dem Holocaust nimmt also weiter seinen Lauf. Eine unerträgliche Geschichte, vom Suhrkamp-Verlag und von jüdischen
Organisationen zu lange geadelt. Geschichtliche Zeugenschaft erträgt keine Zweideutigkeit. Virtuelle Wahrheitszeugen der Leidensgeschichte der Shoa-Opfer beschädigen die Integrität der tatsächlich
Überlebenden und lösen die Faktizität der Todesfabriken in beliebig verfügbaren Stoff für Identitätskosmetik und Betroffenheitskonsum auf. Die Shoa, eine Fälschung? Wie rasch sich Zeugnisse der
Geschichte in die Zweifelhaftigkeit der Bilder verflüchtigen, belegt die aktuelle Diskussion über die Wehrmachtsausstellung. Einige der vielen hundert Bilder, die von Verbrechen der deutschen Wehrmacht
zeugen sollen, zeigen höchstwahrscheinlich nicht, was sie aussagen sollten. Und schon rutscht die ganze Dokumentation auf die Ebene des Dubiosen. Was ist authentisch, was eingebildet? Die Shoa, eine
Fälschung, ein Truggebilde? Opfersimulanten wie Wilkomirski und Grabowski liefern den Auschwitz-Leugnern die Argumente. Deshalb muss das Hantieren mit Holocaust-Identitäten beendet werden.
Ausgabe
Nr. 44/99, 4.11.1999 Binjamin Wilkomirski und die verwandelte Polin Die Holocaust-Lüge Wilkomirskis muss geahndet werden. Denn die Betrügereien nehmen weiter ihren Lauf Von Daniel Ganzfried
Der
Fall Wilkomirski ist zu seinem Ende gekommen. Der jüdische Verlag bei Suhrkamp hat den Bestseller «Bruchstücke» vom Markt genommen. Über ein Jahr musste es dauern, bis sich Siegfried Unseld den Fakten
gebeugt hat, wie ich sie in der «Weltwoche» am 28. August 1998 zum ersten Mal ausgebreitet habe: Sein Autor Bruno Doessekker alias Binjamin Wilkomirski ist kein Überlebender der Konzentrationslager. Er
wurde am 12. Februar 1941 als Bruno Grosjean in Biel geboren, 1957 adoptiert, wuchs verwöhnt in einer Zürcher Villa auf, fristete musizierend und Klarinetten bastelnd sein Leben und hat sich vor lauter
Langeweile entschlossen, ein Kind des Holocaust zu sein. Die ersten Reaktionen des Verlages, der Agentur Liepman, welche das Buch weltweit vermarktet, und des weitverzweigten Netzes an
Unterstützenden, die Doessekker zur Seite standen, darunter so obskure Organisationen wie eine bei Basel ansässige «Aktion Kinder des Holocaust», reichten von grobschlächtig psychologisierenden Anwürfen an
meine Person bis hin zur Aussage: «Das wussten wir alles schon, aber trotzdem glauben wir Wilkomirski.» Verschiedenste Versionen wurden herumgeboten, weshalb seine Geschichte dennoch stimmen könnte:
Behördenwillkür, verstorbene Kinder, an deren Stelle Wilkomirski gesetzt worden sei, Verschwörungen von Nazi-Ärzten, ein zweites «Kinder der Landstrasse» gar. Aber es blieb bei Versionen, denen niemand
nachgehen wollte, auch unsere renommiertesten Historiker nicht, darunter Jacques Picard, Mitglied der Historikerkommission Bergier, der sich in einem Zeitungsartikel und an einer Podiumsdiskussion immerhin
zu entsprechenden Spekulationen hinreissen liess. Eine ganze Weile lang fand man es also in Ordnung, den Fall motten zu lassen. Was heisst: Man nahm es in Kauf, dass entweder Wilkomirski weiter am
Holocaust herumlügt oder Ganzfried und «Weltwoche» ungeahndet ein wehrloses Opfer beschädigen dürfen. Eine höchst eigenartige Toleranz, wenn man das schon fast vegetative Mitleiden in Rechnung stellt, mit
dem die noch lebenden Opfer des Holocaust täglich bedrängt werden, und die begeisterte Anteilnahme nicht vergisst, die diesem Buch und seinem Autor zum Durchbruch verhalf. So ging es, bis die amerikanische
Fernsehkette CBS in ihrem Programm «60 Minutes» im Februar dieses Jahres von mir beigebrachte Dokumente veröffentlichte, die auch die letzten Schlupflöcher Doessekkers schlossen: Das uneheliche Kind Bruno
Grosjean wurde laut Stadtarchiv Zürich schon am 13. Oktober 1945 als Pflegekind an der Adresse seiner späteren Adoptiveltern Kurt und Martha Doessekker angemeldet. Mindestens ab dem 7. Juni 1945 habe
Kontakt bestanden. Die Vermundschaftsbehörde Biel bestätigte den Tatbestand. In dieser ganzen unmittelbaren Nachkriegszeit aber will Wilkomirski in Polen gewesen sein, will noch Pogrömchen miterlebt haben,
bevor er von einer Frau Grosz aus Krakau entführt und über ein von ihm ungenannt gebliebenes Kinderheim zu den Doessekkers nach Zürich geschleust worden sei. In der Zwischenzeit sind im englischsprachigen
Ausland grössere Artikel erschienen - wie Philip Gourevitchs Arbeit im «New Yorker» unter dem Titel «Memory Thief» -, die alle zum selben Schluss kamen: Das Buch «Bruchstücke» ist kein autobiografisches
Zeugnis. Endlich trat auch noch die britische BBC auf den Plan. Ihr Regisseur Christopher Olgiati, hierzulande bekannt durch seinen Film «Nazigold», hatte schon ein Jahr zuvor Arbeiten für einen Film über
Wilkomirski begonnen. Durchaus in gutem Glauben an den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte, die sich ihm gegenüber offenbar um den Aspekt erweitert hatte, dass der fragile Mann ein Opfer von Mengeles
medizinischen Versuchen gewesen sein wollte. Davon war im Buch noch keine Rede gewesen. Nun erst, im Februar diesen Jahres, entschloss sich die Literaturagentur Liepman, den Historiker Stefan Mächler für
ein Gutachten über den Fall zu engagieren, das bei Abschluss dieses Artikels noch immer seiner Veröffentlichung harrt. Nach einigem Zögern war ich zur Zusammenarbeit bereit und öffnete alle meine
Quellen. Inzwischen meldete sich die Halbschwester des Bruno Grosjean. Sie führte mich zu dessen leiblichem Vater in Luzern, und wir verbrachten einen recht erhellenden Abend im Kreise der Familie, die 1995
so gerne den verlorenen Sohn gefunden hätte. Aber über die Bieler Behörden hatte dieser den Bescheid gegeben, dass von seiner Seite her kein Interesse an einem Kennenlernen bestünde. Der Vater bestätigte,
was ausserdem bekannt war, namentlich dass der uneheliche Bruno Grosjean tatsächlich sein Sohn ist und er auch die gesetzlichen Alimente bis zum Datum der vollzogenen Adoption 1957 bezahlte. Mehr als das,
er erklärte sich sogar zu einem Bluttest bereit, um die Vaterschaft zu bezeugen.
Die missbrauchte Zeugin Später rief eine andere Frau bei mir an und gab sich als die in der deutschen Ausgabe Karola,
in der englischen dann Mila genannte Freundin Wilkomirskis zu erkennen. Sie war in früheren Jahren Bruno Doessekker nahe gestanden und hatte ihm ihre Geschichte als Holocaust-Überlebende erzählt. Sie
bestritt vehement, Doessekker irgend einmal im Krakauer Kinderheim getroffen zu haben, betonte, dass sie noch vor der Drucklegung des Manuskriptes auch die Literaturagentin Eva Koralnik davon in Kenntnis
gesetzt habe, und zeigte sich äusserst entrüstet von der ganzen Angelegenheit, in der sie sich als missbrauchte Zeugin zurückgelassen sah. Sie überlege sich, Doessekker, Eva Koralnik und
den israelisch-schweizerischen Psychotherapeuten Elitsur Bernstein einzuklagen. Vor allem Letzteren, denn er trage als die eigentliche treibende Kraft die Verantwortung dafür, was Bruno mit ihrer
Geschichte angerichtet habe. Verschiedene Zeugen sagten gegenüber Mächler und der BBC aus, namentlich ein Herr Berti, Architekt in Zürich, seine verstorbene Frau war als ehemalige Praxishilfe eng mit den
Doessekkers befreundet, und ein Herr René Aeberhard, heute wohnhaft in Kalifornien, von dessen Familie der kleine Bruno Grosjean in Nidau bei Biel eine Weile betreut wurde, bevor er nach Adelboden ins
Kinderheim Sonnhalde kam. Sie bekräftigten anhand von Fotografien, dass Bruno Grosjean und Bruno Doessekker ein und derselbe seien. René Aeberhard ging weiter und erkannte Szenen aus dem Buch, wie das Spiel
Wilkomirskis und seines Bruders Motti mit Modellflugzeugen, als Begebenheiten, die sich im Nidauer Hause zugetragen hätten. Unterdessen hatte Mächler bei den Erbschaftsbehörden in Bern
auch herausgefunden, dass Doessekker das Erbe seiner verstorbenen leiblichen Mutter nicht, wie ich irrtümlich selber noch meinte, 1981 von Gesetzes wegen in den Schoss gefallen war. Bruno Doessekker hat
deren Testament angefochten, das ihn nicht berücksichtigte. Als «leiblicher Sohn» erhielt er den ihm zustehenden Pflichtteil, einige zehntausend Franken, anstandslos. Der Fall Wilkomirski wäre also zu
Ende. Doch ein neuer Skandal zeichnet sich ab. Mitte Juni erreichten mich aus den Vereinigten Staaten Dokumente, die ich angesichts der Brisanz sofort der BBC weitergab, bevor ich sie auch Mächler
zugänglich machte.
Die rührende Laura Los Angeles, 19. April 1998, landesweiter Holocaust-Gedenktag: Wilkomirski gibt zusammen mit einer Laura Grabowski in der Synagoge Shaarei Tefila ein Konzert. Er
bläst die Klarinette. Sie spielt Klavier. Kol nidre und Eigenkompositionen. Grabowski hatte ihm 1997 nach der Lektüre seines Buches geschrieben, dass sie als Überlebende von Auschwitz ein ähnliches
Schicksal teile wie er. Wilkomirski bestätigte, sich aus Birkenau an sie zu erinnern. In Los Angeles treffen sie sich endlich, fallen einander in die Arme. Er ist ihr Binji, sie seine kleine Laura, und vor
dem anwesenden Publikum, das teils vor Rührung zu weinen beginnt, teils nicht weiss, ob Applaus angebracht sei, wiederholt Wilkomirski seine Erinnerung an die kleine Laura mit den blonden Haaren und den
blauen Augen aus Birkenau. Wer aber ist Laura Grabowski, diese Kronzeugin, die von Doessekkers Freunden nach meinen Veröffentlichungen verzweifelt angerufen worden war, um für Wilkomirski Stellung zu
nehmen, doch eigenartigerweise geschwiegen hat? Mit der Social-Security-Nummer 535 388 795 füllt sie im September 1998 einen Antrag beim «Swiss Fund for Needy Victims of the Holocaust/Shoa», kurz «Swiss
Humanitarian Holocaust Fund», also dem Schweizerischen Holocaust-Fonds, aus. Geburtsland Polen. Der Fonds entspricht ihrem Antrag und schickt ihr per Scheck 502 Dollar, die sie auch sofort einlöst. Später
schöpft sie noch verschiedene andere Institutionen ab, darunter den sogenannten Jewish Family Service of Los Angeles, eine jüdische Sozialhilfeorganisation, die ihr zwischen 1998 und 1999 insgesamt mehr als
2000 Dollar überweist. Unterstützt wird sie von einer Frau Tsiporah Peskin, einer der energischsten Unterstützerinnen Wilkomirskis. Tsiporah Peskin sitzt zudem im Direktorium der American Orthopsychiatrist
Association und verleiht Wilkomirski noch im Frühsommer diesen Jahres einen Preis für seine wissenschaftlich-therapeutische Arbeit auf dem Felde der Identitätsgewinnung für Holocaust-Überlebende. Geht
man nun aber der Social-Security-Nummer der Laura Grabowski nach, so landet man bei einer Lauren Stratford, geboren am 18. August 1941 als Laurel Rose Willson in Auburn, im US-Staat Washington (Geburtsschein
des Staates Washington, Reg.-Nr. 125). Lauren Stratford zeichnet 1988 als Autorin des Bestsellers «Satan's Underground» (noch lieferbar) über Kindsmissbrauch und satanische Rituale, begangen an ihr und
ihren drei umgebrachten Kindern. Sie wurde von Fernsehshows gefeatured (Geraldo, Oprah), bis ihre Geschichte Anfang der neunziger Jahre von «Cornerstone» als Erfindung entlarvt wurde, einem kleinen
amerikanischen Magazin evangelistischer Provenienz, das dadurch zu kurzer Berühmtheit gelangte (www.cornerstonemag.com). Nun also ersteht Lauren Stratford unter Mitwirkung Wilkomirskis wieder auf,
diesmal als KZ-Überlebende wie er, der sich an sie erinnert und ihr bei der weiteren Erfindung ihrer Geschichte hilft, während sie die seinige stützt. Frau Stratford alias Grabowski ist
mittlerweile untergetaucht. Weder die BBC noch die Journalisten von «Cornerstone» oder «3sat», dessen «Kulturzeit» in Los Angeles recherchiert hat, konnten sie auffinden. Wilkomirski schweigt vorderhand
auch dazu, und Tsiporah Peskin, E-Mail peskin@sirius.com, beantwortet keine Anfragen. Da die ganze Geschichte durch meine Vermittlung im BBC-Film ebenso zu sehen ist wie sie dereinst in Mächlers Report
nachzulesen sein wird, verzichte ich hier auf weitere Einzelheiten.
Das Geschäft mit dem Holocaust Aber es gilt zur Sprache zu bringen, was die Affäre Wilkomirski brisant macht: den Tatbestand des
Betruges und wie er mit Hilfe eines namhaften Verlags, einer respektablen literarischen Agentur und diverser Institutionen im Geschäft mit dem Holocaust Einzug gehalten hat und seine Wirkung
entfaltet. Wer will, mag Wilkomirski weiter zugute halten, dass er nicht ganz bei Trost sei. Solche Erwägungen bleiben im Bereich der Spekulation und entlasten von weiterem Nachdenken. Vielleicht spricht
eine zerrissene Psyche dereinst für mildernde Umstände und ein milderes Urteil. Ich selbst bin schon früh zur Einschätzung gelangt, dass wir es mit einem kalt planenden, systematisch vorgehenden Fälscher zu
tun haben, dessen eigentlich bemerkenswertes Handwerk die mimetische Schauspielkunst ist. Aber auch dies ist nur unter den vielen Möglichkeiten eine. Wichtig bleibt: «Bruchstücke» ist ein Buch, also ein
veröffentlichtes Produkt, das den gemeinsamen Willen mehrerer Leute und Stellen voraussetzt, ganz egal, welche Motivation den Autor zum Lügen getrieben haben mag. Keine Pathologisierung vermag den
profitträchtigen Schritt in die Öffentlichkeit zu erklären, mit dem der Tatbestand des Betruges erst erfüllt war. Hätte Bruno Doessekker sein Garn im Privaten gesponnen, wir könnten es getrost dabei
bewenden lassen. Aber Bruno Doessekker war nicht alleine, während er sich im thurgauischen Amlikon zwischen Judaika und unverkauften Klarinetten sein neues Leben ausdachte. Jeder seiner Schritte war
moderiert von seinem Freund und Psychotherapeuten Elitsur Bernstein. Dieser war einst in der Schweiz tätig. Am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) noch im letzten Semester als Referent aufgeführt,
wirkt er jetzt unter Holocaust-Überlebenden in Israel. Dort figuriert er auch als Fachperson bei AMCHA, einer Vereinigung zur psychologischen Hilfeleistung für Holocaust-Überlebende und Folteropfer, die in
der Schweiz einen Ableger kennt. Bernstein hat die Erfindung und Konfektionierung der Figur Wilkomirksi überwacht. Ebenso Doessekkers Lebenspartnerin Verena Piller, die früh darauf drängte, dass ihr Bruno
seine Fantasien aufschreibe und weiterreiche, egal ob er damals noch Widerstandskämpfer im Warschauer Getto war, Mit-glied des israelischen Ge-heimdienstes Mossad oder Kampfpilot der Luftwaffe. Bernstein
führte Doessekker in jüdischen Kreisen ein, brachte ihn nach Israel, wo es ihm zusammen mit der Hobbyhistorikerin Lea Balint gelingt, Wilkomirski als rührigen Spurensucher ins Fernsehen zu bringen.
Er vermittelte den Kontakt zur Agentur Liepman und reiste bald mit ihm als Dr. Wilkomirski, Historiker, durch die Welt, um vor Fachpublikum eine sogenannte «interdisziplinäre Therapie» zur
Identitätsgewinnung von Opfern des Holocaust zu verbreiten. Unter verschiedenen Titeln veröffentlichen sie gemeinsam einen Aufsatz, der bis heute nicht zurückgezogen ist und so als öffentliche Anleitung zum
Betrug gelesen werden muss (erstmals im «Werkblatt», Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, 1997, Nr. 39). Sie beanspruchen, weiter heilend und Biografien bastelnd tätig zu sein, fünfzig
Klienten sei schon geholfen worden. Der Fall einer Frau Rappaport (wirklicher Name der Redaktion bekannt) aus dem bernischen Lützelflüh wird später von Wilkomirski anlässlich der schon
erwähnten Preisverleihung vor den amerikanischen Orthopsychiatern in allen Einzelheiten ausgebreitet. Auch Frau Lea Balint ist weiterhin bemüht, Kinderbiografien von Holocaust-Überlebenden zu erstellen. Sie
liess sich von Wilkomirski als Historikerin und Mitarbeiterin von Yad Vashem ausgeben und hat es geschafft, für ihre Tätigkeit Gelder von der Jewish Claims Conference zu erhalten. Vor diesen scheinbaren
Autoritäten war es wahrscheinlich weder an Frau Koralnik, der Literaturagentin, noch an Thomas Sparr, damals verantwortlich beim jüdischen Verlag, und schon gar nicht an Siegfried Unseld, der ein paar Jahre
zuvor noch Ruth Klügers «Weiterleben» abgelehnt hatte, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Sie schlugen alle Warnungen in den Wind und hielten gegen besseres Wissen am autobiografischen Gehalt
von Doessekkers Wilkomirski-Scharlatanerie fest - obschon auch im Buche selber alles gegen ihn spricht: sei es die Behauptung, sich an das frühe Kindsalter von zwei oder drei Jahren plastisch zu erinnern,
sei es die Insinuation, als Fünfjähriger Krematorien und Gaskammern im KZ gesehen zu haben, aber lebend davongekommen zu sein, sei es das erzwungene Alibi-Schlusswort, als Schweizer Bürger eine «Verfügte
Identität» zu haben und nichts als einen behelfsmässigen Auszug aus dem Geburtsregister zu besitzen. Vom Kitschpathos und der perversen Gewaltversessenheit nicht zu reden. Alle historischen Unwahrheiten
wurden darüber hinaus erst benannt, als sich Raul Hilberg, Autor des Standardwerkes «The Destruction of the European Jews, Chicago 1961», aus den Vereinigten Staaten dazu verlauten liess.
Das
Gütesiegel «Suhrkamp» Die Tatsache aber, dass die billige Fälschung das Gütesiegel «Suhrkamp» trägt (es ist ja erst provisorisch zurückgezogen, und auch nur in der Hardcoverausgabe, als Taschenbuch wird es
immer noch ausgeliefert), hat erst verschuldet, dass Buch und Autor unhinterfragt zu ihrem Höhenflug rund um die Welt segelten. Dazu kam das raffinierte Sperrfeuer, dem die Rezensenten sich bereitwillig
fügten: Jeder, der Genaueres wissen will, wird zum Komplizen in der zweitmaligen Ausradierung eines jüdischen Lebens. Genaueres Befragen war verboten. Bis im August letzten Jahres die Blase geplatzt ist.
Und erst jetzt, Anfang Oktober 1999, wird das Buch verschämt aus dem Verkehr gezogen, nachdem der Verleger intern so gehörig unter Druck geraten war, dass er seine erst noch in Interviews gemachten
Äussserungen, den Bericht Mächlers schon in der Hand, am Buch als literarischem Meisterwerk festhalten zu wollen, ebenso vergessen musste wie die trotzige Bemerkung, nichts Ehrenrühriges daran zu
finden, wenn die Identität des Autors halt offen bleiben müsse. Wer trägt Verantwortung? Darf man sich auf den Standpunkt stellen, die Wirkung des Buches entschuldige seinen tatsächlichen Hintergrund?
Dazu ist zweierlei zu sagen. Zunächst handelt es sich bei «Bruchstücke» und Wilkomirskis Auftritten um eine Ansammlung von Clichés, deren Billigkeit an sich schon ein Affront ist gegenüber den wirklichen
Überlebenden des Holocaust. Ich gehe aber weiter und stelle fest: Der Autor hat seinen Post-Holocaust-Juden so zurechtfrisiert, wie man ihn sich in den besseren Kreisen, denen er entstammt, eben vorstellt:
weinerlich, händereibend, geschlagen und gebrochen für immer, nachdem man den Juden als Blutsauger und Christusmörder gerade erst losgeworden ist. Eine Aneinanderreihung antisemitischer, von der Leserschaft
ins Positive interpretierter Zerrbilder, die umso mächtiger wirkten, als sie von Juden und Überlebenden der Konzentrationslager selber für gut befunden wurden. Aber man gefiel der verständigen Umwelt ja
schon immer am besten, wenn man das Bild verkörpern konnte, das sie einem abverlangte. Hier war er nun, der Protojude, dieser Nach-Holocaust-Shlemihl.
Wie der Fall würdig zu beenden wäre Dass auch
die jüdischen Organisationen bis heute zu dem Fall schweigen, nachdem sie den Autor jahrelang hofiert haben (inklusive der Verleihung einiger namhafter Preise), muss als Indiz gewertet werden, wie schwer
es vor allem den europäischen unter ihnen nach wie vor fällt, ihre politischen Interessen selber zu erkennen und zu vertreten. Lieber lassen sie sich von andern vorrechnen, was gut für sie sei. Diesmal
von einem der angesehensten deutschen Verlage, der seine Holocaust-Lüge aussitzen zu können glaubt. Denn eigentlich meint Unseld ja, Wahrheit spiele keine Rolle, es gebe sie nicht, in der Erinnerung, auch
wo man davon spricht. Da sich nun jüdische Organisationen, denen zu Recht oder Unrecht das Erbe von sechs Millionen überlassen bleibt, dieser Haltung des Schweigens und Aussitzens unterwerfen, droht
ihnen der Mühlstein der Wahrheit bald selbst am Halse hängen zu bleiben. Wenn die Erosion der Faktizität von Auschwitz so weit fortgeschritten sein wird, dass auch der Unterschied, in welchem
Bekenntnislager die Lüge darüber stattfindet, keine Rolle mehr spielt, wird ihnen ihr Schweigen von heute die Sprache verschlagen. Ich meine aber, dass noch eine Chance besteht, diesen Fall würdig
und verantwortungsvoll zu bewältigen: Erstens. Es liegt ein kalt geplanter Betrug vor. Mehr noch, Bernstein, Wilkomirski & Co. haben andere zum Betrug angestiftet und helfen weiter dabei. Die
Tatbestände gehören geahndet, Nachahmer abgeschreckt. Die Betrogenen müssen ein Zeichen setzen, dass es ihnen nicht gleichgültig ist, ob sie in Sachen Holocaust zu Komplizen von Fälschungen, Lügen
und Betrug gemacht werden. Verlag und Agentur haben ihre rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, auch wenn sie sich dem Vorwurf der Leichtfertigkeit oder gar Untersuchungen über eine
eventuelle Mittäterschaft aussetzen. Dasselbe gilt für Institutionen wie Schulen, die den Autor zu bezahlten Vorträgen einluden und deren Schüler eine Antwort auf die Frage «Na und.?»
verdienen. Zweitens. Es braucht eine unmissverständliche Distanzierung vom Buch, vom Autor und von seinen Mittätern durch diejenigen Institutionen, namentlich die jüdischen, die Preise gesprochen und ihre
Autorität sonstwie in die Waagschale geworfen haben. Drittens. Eine ebenso klare Geste des Bedauerns und der Entschuldigung muss an die wirklichen Überlebenden der Konzentrationslager gerichtet werden,
deren Integrität missbraucht und beschädigt ist. Eine solche Geste kann darin bestehen, dass die mit dem Buch eingenommenen Profite der Verlage und der Agentur an wohltätige Organisationen
weitergegeben werden. Viertens. Institutionen wie Holocaust-Fonds müssen mit den Mitteln und der Autorität ausgestattet werden, bei Zweifeln an der Identität von Gesuchstellern seriöse Nachforschungen
betreiben zu können. Erschlichene Gelder werden zurückgefordert, Betrügereien geahndet und öffentlich gemacht. Als Ausgangspunkt muss gelten: Auch die Überlebenden der Konzentrationslager sind Menschen,
ihr Zeugnis nicht sakrosankt. Treten sie in die Öffentlichkeit, müssen sie sich kritische Nachfragen
gefallen lassen. ======================================================== http://www.nzz.ch/online/01_nzz_aktuell/feuilleton/00_feuilleton.htm
Donnerstag, 4. November 1999
Wolf Gebhardt:
Das Ende der Wilkomirskiade
Neue Recherchen bestätigen die These der Hochstapelei
Erst im Oktober hat sich der Jüdische Verlag bei Suhrkamp entschliessen können, die umstrittene
Holocaust-Autobiographie «Bruchstücke» Binjamin Wilkomirskis aus dem Programm zu nehmen. Der folgende, neue Fakten anführende Erfahrungsbericht des Journalisten Wolf Gebhardt, der für eine
BBC-Sendung recherchierte und den Autor mehrmals traf, macht einsichtig, warum.
Als ich Binjamin Wilkomirski Anfang März dieses Jahres im Zwielicht seines Amlikoner Bauernhauses zum erstenmal
gegenüberstand, fiel es mir schwer zu argwöhnen, dieser gebeugte Mann könnte seine Holocaust-Autobiographie erfunden haben. Das gequälte Lächeln und die brüchige Stimme mit jiddischem Akzent - der Autor
der preisgekrönten «Bruchstücke» hatte augenscheinlich sehr gelitten. Vielleicht in Auschwitz und Majdanek, als Strassenkind in Krakau und später unter gefühllosen Pflegeeltern in der Schweiz, wie er es
beschrieb. Ganz gewiss aber seit August 1998 unter den Anschuldigungen des Schriftstellers Daniel Ganzfried: Wilkomirski sei gar kein Jude aus Riga, sondern ein unehelicher Sohn der Fabrikarbeiterin
Yvonne Grosjean aus Biel. Kein KZ-Kind Binjamin, sondern deren am 12. Februar 1941 geborener Sohn Bruno Grosjean sei vom kinderlosen Zürcher Ärzteehepaar Doesseker in den vierziger Jahren aufgenommen
und 1957 als Bruno Doesseker adoptiert worden.
Ganzfrieds Anschuldigungen entfesselten einen weltweiten Skandal. Die BBC schickte mich in die Schweiz, um für eine TV-Dokumentation der
Sache nachzugehen. Die Arbeit am Film hatte schon vor dem Eklat begonnen. Wilkomirski alias Doesseker, der als Musiklehrer und Klarinettenbauer arbeitet, nahm den noch fremden Rechercheur freundlich auf.
Er hoffte auf Rehabilitierung. Es schien mir nicht unmöglich, Wilkomirskis Ruf wiederherzustellen. Denn Ganzfried hatte nur Indizien vorgelegt, allerdings gewichtige: Bruno Doesseker sei schon
im Frühjahr 1947 eingeschult worden, zu einer Zeit, als Wilkomirski angeblich noch in Polen war. Vermeintlich 1939 geboren, sah er in der Schule auch nicht älter aus als seine Kameraden und
sprach akzentfrei Schweizerdeutsch. Jugendfreunde bezeugten, der Dandy habe später zu Phantastereien geneigt. Gegen Wilkomirski sprach auch, dass er das Erbe der 1981 in Bern verstorbenen
Yvonne Grosjean angenommen hatte, deren Sohn zu sein er doch leugnete. Auch lehnte er einen DNA-Vergleich mit ihrem noch lebendem Bruder ab.
Kein weiterer Eingriff
An langen Nachmittagen am
Küchentisch bei Kaffee und Zigaretten verteidigte sich Wilkomirski geduldig: Er führte neue Fakten und Erinnerungen sowie entwicklungspsychologische Erwägungen ins Feld. Warf seinen Kritikern
verleumderischen Neid vor, warb um Verständnis für die Nöte eines Künstlers. Nur hinsichtlich des DNA- Tests reagierte er unwirsch. Als Mengele-Opfer lasse er keine weiteren Eingriffe an seinem Körper
zu.
Und sprach nicht auch einiges für Wilkomirski? Erweckten er und eine amerikanische Pianistin namens Lauren Grabowski nicht den Eindruck, sich aus Auschwitz zu kennen? Beschrieb er nicht
ein Krakauer Kinderheim so präzis, dass ein ehemaliger Insasse überzeugt war, Wilkomirski sei auch dort gewesen, obwohl er sich nicht an ihn erinnerte? Eine Durchsicht von Wilkomirskis Pässen
ergab jedoch, dass er schon seit 1969 häufiger nach Polen gereist war. Dass er ein besessener Rechercheur ist, bewiesen die etwa 2000 Bände Holocaust-Literatur im Obergeschoss seines Amlikoner
Hauses. Leider fand sich auch weder in osteuropäischen Akten noch in Schweizer Dossiers der Name Binjamin Wilkomirski. Böse Zungen behaupteten, der Klarinettist habe seinen Nachnamen der von ihm
verehrten Geigerin Wanda Wilkomirska entlehnt.
Selbst Wilkomirskis grösster Trumpf stach nicht: Wie Leon Stabinsky, Vorsitzender einer Überlebendengruppe aus Los Angeles, herausfand, heisst
Wilkomirskis vermeintliche Leidensgenossin Lauren Grabowski eigentlich Laurel Wilson. Sie ist weder Jüdin, noch war sie in Auschwitz. - Es sah nicht gut aus für Wilkomirski. Weitere Recherchen hatten
auch ergeben, dass sich seine Geschichte über die Jahrzehnte in höchst widersprüchlicher Weise veränderte, bis sie in den «Bruchstücken» ihre schriftliche Form fand. Auch konnten sich Klassenkameraden
und Lehrer nicht der spektakulären Episoden aus der Zürcher Primarschulzeit entsinnen, die der Autor in seinem Buch schildert. Längst hatte ich zudem den Eindruck gewonnen, dass mich Wilkomirski zu
manipulieren versuchte. Er weinte und log, fütterte mich mit anscheinend ihm günstigen Dokumenten und verheimlichte die Existenz belastender Papiere und Fakten.
Dennoch: Ganzfrieds Behauptung, Bruno
Doesseker alias Binjamin Wilkomirski sei identisch mit einem Knaben namens Bruno Grosjean, war nicht bewiesen. Wilkomirski tischte mir eine abenteuerliche Vertauschungstheorie auf: Da er sich an
fremdes Spielzeug erinnere, hätten seine Pflegeeltern wohl vor ihm schon ein anderes Kind bei sich gehabt; das müsse Bruno Grosjean gewesen sein. Ein wohlmeinendes Komplott der Doessekers
sowie schweizerischer Beamten habe ihm, dem Juden Binjamin, die Identität Brunos gegeben, um ihn so vor künftigem Antisemitismus zu schützen. Wo und unter welchem Namen aber der echte Bruno
geblieben war, vermochte Wilkomirski nicht zu sagen.
Überraschenderweise erwies sich Wilkomirski als ebenso manipulativ wie beeinflussbar: In harten Verhandlungen brachte ich ihn dazu, mir die
Akten Bruno Grosjeans bei der Vormundschaftsbehörde in Biel zu öffnen. Gemäss diesen Unterlagen hatte der Knabe bei verschiedenen Pflegeeltern und später im Kinderheim «Sonnhalde» in Adelboden
gelebt, bevor er am 13. Oktober 1945 zu den Doessekers zog. Nach wochenlanger Recherche fand ich in den USA schliesslich den Mechaniker René Aeberhard, bei dessen Familie in Nidau bei Biel Bruno
Grosjean vom Sommer 1944 bis zum März 1945 lebte. Auf einem ihm vorgelegten Photo, das Bruno Doesseker im Sommer 1946 zeigt, identifizierte Aeberhard den abgebildeten Knaben eindeutig als Bruno Grosjean.
Manche Begebenheiten in Wilkomirskis Buch seien Spiegelungen der Zeit in Nidau.
Es kam noch schlimmer für Wilkomirski: Die Bieler Akten belegten, dass Bruno Grosjeans Vater noch lebt. Die äussere
Ähnlichkeit mit Wilkomirski ist verblüffend. Bruno Grosjeans Vater, der seinen Sohn noch nie gesehen hat, ist zu einem DNA-Test bereit. Ich hatte mich allerdings hinter Wilkomirskis Rücken mit ihm in
Verbindung setzen müssen. Als dieser von ersten Kontaktaufnahmeversuchen erfuhr, war es für mich vorbei mit Besuchen in Amlikon.
Die letzten Zweifel an der Fälschung beseitigte ein Dokument aus
seiner eigenen Hand. In einem Brief an die Testamentsabteilung der Stadtkanzlei Bern forderte Bruno Doesseker am 3. 11. 1981 den gesetzlichen Pflichtteil aus dem Nachlass von Yvonne Grosjean, «meiner
leiblichen Mutter». Ihr Geld war ihm also nicht aufgedrängt worden, wie er immer behauptete. Im Gegenteil: Sie hatte Bruno Grosjean enterbt.
Ein armer Narr?
Die neuen Fakten fechten
Wilkomirski nicht an. Er gibt sich als Opfer einer weitreichenden Verschwörung. Ist er nun krank oder ein gerissener Schwindler? Als phantasiertes Holocaust- Opfer, so scheint es, versuchte er auf
pathologische Weise seine Identitätsprobleme als Adoptivkind zu bewältigen. Doch Bruno Doesseker hat die wunden Punkte seiner Wilkomirskiade zu listig verteidigt, als dass man ihn nur für einen armen
Narren halten sollte. Der Schaden, den der KZ-Schwindler anrichtete, ist gross. Es wäre jedoch kurzsichtig, die Verantwortung allein bei ihm zu suchen. Das «System Wilkomirski» - darunter
Lebensgefährtin, Freunde, Therapeuten - hat ihn teils fahrlässig, teils vielleicht gar wider besseres Wissen zu dem werden lassen, der er wohl gerade heute glaubt zu sein: das grösste noch lebende Opfer
des Jahrhunderts.
Neue Zürcher Zeitung, 4. November 1999
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