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Daniel Ganzfried: Binjamin Wilkomirskis «Bruchstücke», das derzeit erfolgreichste
Schweizer Buch, ist eine Fiktion
(Weltwoche Nr. 35/98, 27.8.1998)


 Die geliehene Holocaust-Biographie
 Kommt einer und behauptet, er sei im Innern der Hölle gewesen,
 fühlen wir gedankenlos mit. Er nimmt uns die Aufgabe ab, Auschwitz
 zu verstehen.

 

 Ein Kind kommt im Alter von zwei bis drei Jahren ins Räderwerk der
 nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, überlebt Majdanek,
 Auschwitz, überlebt die ganze Fahrt durch das Horrorlabyrinth und
 wird schliesslich an die Gestade des Zürichsees gespült, wo es das
 Erlebte bei sich behält, bis es als längst erwachsener Mann zu
 schreiben beginnt. Das Manuskript landet bei der angesehenen Zürcher
 Literaturagentur Liepman und erscheint schliesslich unter dem Titel
 «Bruchstücke, aus einer Kindheit 1939­1948» 1995 im jüdischen
 Verlag bei Suhrkamp.

 Seither steht Binjamin Wilkomirski im Licht der Öffentlichkeit. Dies
 Kind, ein Mensch aus Fleisch und Blut, geht um die Welt.
 Übersetzungen in mehr als ein Dutzend Sprachen, bis jetzt drei
 Filme, ein Theaterstück, gelehrte Abhandlungen, unzählige Features
 und Rezensionen ­ nichts fehlt, um vor dem grossen Auftritt der
 literarischen Schweiz in Frankfurt noch einmal auf dieses seit
 Jahren erfolgreichste Buch aus unserem Lande hinzuweisen.
 Vergleichbar ist ihm vielleicht noch Zoë Jennys «Blütenstaubzimmer»,
 ein anderes kleines Büchlein, das einige Jahre später im selben
 Verlag erschien. Aber es wurde immerhin als Roman rezipiert, was es
 im Bereich der Unschuld belässt.

 Wir lesen «Bruchstücke» und sind erregt von der Brutalität des
 Beschriebenen, aber auch etwas abgestossen: Ratten fressen sich aus
 toten Leibern ins Freie, zertrümmerte Kinderschädel verspritzen
 Gehirnmasse über schlammigen Schnee, ein Vater speit Blut im Bogen
 aus, als er vom Fahrzeug zu Tode gequetscht wird, und zwei sterbende
 Kinder nagen sich Hungers ihre schon erfrorenen Finger bis auf die
 Knochen ab.

 Alles eine antisemitische Verschwörung?
 Solche Episoden müssen jeden Leser ins Herz treffen, da kann für den
 Autor nichts schiefgehen, denken wir, lesen weiter und wehren die
 Schalheit ab, die uns zwischen der Grobheit der Darstellungen und
 dem poesiealbumhaften Pathos der Sprache befällt. Als würde hier
 einer ohne jedes eigene Zutun beschreiben, was ihm aus einem
 abscheulichen Bildband mit schlechten Kommentaren entgegenschlägt.

 Die Anteilnahme an diesem Schicksal, das der Autor als sein
 eigenes reklamiert, will Fragen verbieten. Wir möchten das Büchlein
 ins Gestell verbannen, Abteilung Holocaust. Aber ein Vorbehalt lässt
 sich nicht beiseite drängen: In welchem Grund wurzelt die hier
 wiedergegebene Erinnerung eines Mittfünfzigers an seine früheste
 Kindheit?

 Ein Schlusswort «zu diesem Buch» hält fest, dass er keine
 Geburtsurkunde habe, nur einen «behelfsmässigen Auszug», der den 12.
 Februar 1941 als Geburtsdatum angibt. Die Dokumentarfilme klären
 nichts, ebensowenig die schriftlichen Publikationen. Auch nach
 unserem mehr als siebenstündigen Gespräch mit dem
 Autor in seinem lieblich renovierten Thurgauer Bauernhaus ist keine
 unserer Fragen beantwortet. Wer ist Binjamin Wilkomirski? Das
 Produkt eines kreativen Aktes von Bruno Doessekker, wie er
 bürgerlich heisst und an seinem Briefkasten angeschrieben
 steht, genährt mit historischer Recherche? Oder tatsächlich das Kind
 aus Riga, der Tötungsfabrik entronnen?

 In einem Vortrag am Psychoanalytischen Seminar Zürich, Anfang dieses
 Jahres gehalten und ab Tonband zu hören, begegnet uns Wilkomirski
 als Vertreter einer therapeutischen Methode, der «interdisziplinären
 Therapie». Sie will Menschen ohne gesicherte Identität
 «therapieren», indem sie Erinnerungsfetzen ans Licht hebt, ihnen
 passende Fakten und Örtlichkeiten aus der realen Geschichte
 beifügt. Auf diese Weise soll eine eigene Lebensgeschichte,
 Identität inklusive, zurückgewonnen werden.

 Auf die naheliegende Frage, wie Fiktion und Faktizität, die beiden
 Bestandteile einer jeden erzählten Erinnerung, voneinander
 unterschieden werden, warten wir vergeblich. Das Publikum, in der
 Mehrheit immerhin ausgebildete Analytiker, zog es vor, erschauert zu
 schweigen, wie uns verschiedene Teilnehmer der Veranstaltung
 bezeugen. Tage später, bei unserer Begegnung, bietet Wilkomirski
 folgende Theorie an: Die traumatische Erinnerung bewahre glasklar in
 der Seele, was sich einst, selbst im jüngsten Kindesalter,
 zugetragen habe.

 Wir sitzen mit Binjamin Wilkomirski am Tisch. Wohin das Auge blickt
 ­ Judaica: Wandbehänge mit biblischen Motiven, Mesusot (Türkapseln)
 an jedem Durch- und Eingang, Davidsterne und Bilder aus dem Heiligen
 Land. Uns ist, als könne jederzeit ein Rabbiner vorbeikommen, um das
 Glaubensbekenntnis seines Konvertiten zu überprüfen. Ein
 beeindruckendes Archiv scheint zu bezeugen, dass der Mann,
 ausgerüstet mit allen Mitteln der modernen Kommunikation, es
 ernst meint mit der Erforschung historischer Faktizität. Auf unsere
 Fragen nach dem schweizerischen Teil seiner Vita ­ Jahreszahlen,
 Heimatgemeinde, Aufenthaltsort, bevor er nach Zürich kam,
 Fotomaterial aus seiner Kindheit ­ begnügt er sich mit einer
 Verschwörungstheorie.

 Nur soviel: Ein Komplott aus antisemitischen schweizerischen
 Gemeindebeamten, kaltherzigen Pflegeeltern und korrupten Behörden
 soll dem Kind durch eine gefälschte Identität seine jüdische
 Herkunft ausradiert und dem Heranwachsenden unter Androhung von
 Strafe Mund und Seele versiegelt gehalten haben. So wurde der
 Holocaust an ihm schliesslich doch noch vollendet, durch die
 Schweiz, denken wir ­ und es passt uns allzu wohlfeil in die
 aktuelle schweizerische Geschichtstrunkenheit. Wir geben zu, dass
 wir einiges nicht glauben, und ziehen von dannen, denken aber, eine
 genauere Recherche würde sicher auch ihm helfen, seine Geschichte zu
 belegen. Wir treffen Bekannte von Bruno Doessekker aus der
 Schulzeit. Sie zeigen uns Fotografien, erzählen Geschichten. Alles
 in allem gewinnen wir den Eindruck eines wohlerzogenen, in
 grosszügigem Elternhaus aufwachsenden, von einer ihn abgöttisch
 liebenden Mutter und einem etwas steifen Vater umsorgten jungen
 Bruno Doessekker. Zwei Talente sind schon früh aufgefallen: Er
 musiziert mit Verve und erfindet hie und da absonderliche
 Geschichten, die sich als Legende entpuppen.

 Der Junge hat erste Freundinnen. Keine von ihnen kann uns
 bestätigen, dass er damals beschnitten war. Aber das heisst nichts,
 viele Kinder wurden damals nicht mehr beschnitten. Auch dass er ein
 begeisterter Skifahrer war, auf und neben den Pisten, besagt sowenig
 wie alle übrigen Episoden, die ein ganz anderes Bild des jungen
 Bruno ergeben, als dieser es in Buch und Gespräch erzeugt. Zum
 Beispiel soll er sich angesichts eines Skiliftes zu Tode erschreckt
 haben, weil er ihn an die Leichenkarren in die Verbrennungsöfen
 erinnert hätte. Die Fotografien, die wir sehen, nachdem er uns keine
 einzige zeigen konnte, hinterlassen das Bild eines schönen jungen
 Menschen mit gewelltem Haar, sanften Augen, ganz auf der Höhe der
 Moden seiner Zeit.

 Immer noch räumen wir der Möglichkeit, der Mann habe seine
 Geschichte tatsächlich erlebt, jeden Spielraum ein. Wir sind
 zuversichtlich, dass in einem Land wie der Schweiz kaum jemand
 aufwächst, ohne diverse Spuren zu hinterlassen, die sein Leben
 einigermassen schlüssig zurückverfolgen lassen.

 Wir sind aber auch erstaunt, dass Wilkomirski alias Doessekker
 diesen Spuren nicht schon selber nachgegangen ist.

 Dieser Zeuge war nie in der Hölle

 Und sind mehr als erstaunt, als er sich bald telefonisch und
 schriftlich drohend gegen weitere Nachforschung verwahrt. Vom
 Suhrkamp-Verlag erfahren wir, Wilkomirskis Schweizer Anwalt habe
 schriftlich bestätigt, es sei unmöglich, Bruno Doessekkers Identität
 bis zur Geburt zu sichern. Uns sagt der Anwalt, Herr Wilkomirski
 selber habe auf die Akteneinsicht bei den Ämtern verzichtet. Für ihn
 als Anwalt sei damit die Sache erledigt gewesen. Offenbar auch für
 den Verlag, dem dieses sein Schreiben genügt hat.

 Im Zürcher Stadtarchiv stossen wir auf das erste Dokument, das uns
 stocken lässt. Bruno Doessekker wurde am 22. April 1947 an der
 Primarschule Zürich Fluntern in der ersten Klasse eingeschult. Er
 hatte im ersten Jahr 25 Absenzen und gab in keinem der folgenden
 Jahre Anlass zu Bemerkungen der Lehrkräfte.

 1947? Wir erinnern uns. In einem der Filme («Das gute Leben ist nur
 eine Falle, ein Besuch bei B.W.», Eric Bergkraut, 3sat) wird
 festgehalten, dass Wilkomirski erst ab 1948 in der Schweiz lebte.
 Wir lesen sein Buch erneut: Die Begebenheiten, die er aus der
 Nachkriegszeit als eigenes Erleben in Polen schildert, lassen es
 schwerlich zu, dass er 1947 in der Schweiz zur Schule ging. Doch wir
 wollen uns nicht schon festlegen. Nur ist da noch dieser
 Altersunterschied von drei Jahren, den er auf alle seine
 Klassenkameraden gehabt hätte. Niemandem fiel etwas auf, sowenig wie
 an seiner Sprache ­ Zürichdeutsch ohne Wenn und Aber. Drei Jahre
 sind in einem Kinderleben viel, im Alter von sechs bis sieben fast
 die Hälfte des gelebten Lebens, sagen wir. Ein Foto zeigt uns den
 jungen Bruno sogar schon im Sommer 1946 im Kreise seiner Nächsten
 putzmunter vor der Villa am Zürichberg. Es wird langsam knapp im
 Buch, aber noch neigen wir dazu, im Grundsatz zu glauben.
 Unterdessen treffen weitere Interventionen ein. Wilkomirski und eine
 ihm offenbar sehr verbundene Aktion Kinder des Holocaust bitten
 schriftlich und mündlich, von weiteren Recherchen abzusehen.
 Wilkomirskis ohnehin beeinträchtigte Gesundheit als
 Auschwitz-Überlebender würde dadurch weiter geschädigt. Wir
 entschliessen uns zur Diskretion, nachdem uns der Name seiner
 Heimatgemeinde aus den Akten bekannt wurde: 2732 Saules bei
 Tavannes. Die vorläufigen Umrisse der Geschichte geben folgendes
 Bild: Am 12. Februar 1941 gebar Yvonne Berthe Grosjean in Biel ein
 uneheliches Kind. Name: Bruno Grosjean, Heimatort: Saules bei
 Tavannes, Kanton Bern. Der Bruder von Yvonne Grosjean möchte sich um
 den Kleinen kümmern, kann aber nicht verhindern, dass Bruno
 vorübergehend in ein Kinderheim nach Adelboden kommt
 und 1945 zur Adoption freigegeben wird.

 Herr und Frau Doessekker, ein Ärzteehepaar aus Zürich Fluntern,
 kinderlos, erhalten das Kind vorerst zur Pflege. Vor der Einschulung
 am 22. April 1947 in die Primarschule Fluntern wird ein Gesuch um
 Namensänderung bei den kantonalbernischen Behörden eingereicht. Nach
 dessen Bewilligung heisst Bruno nicht mehr Grosjean, sondern
 Doessekker, wie seine Pflegeeltern. Bruno Doessekkers leiblicher
 Vater, der später noch Kinder hatte, bezahlte Unterhaltsbeiträge,
 bis 1957 die Adoption rechtskräftig wird. Frau Grosjean heiratet
 später einen Walter Max Rohr, heimatberechtigt in Hunzenschwil,
 Aargau, und starb 1981, kurz nach ihrem Ehemann, in Bern, wo sie auf
 dem Bremgartenfriedhof in einem Urnengrab bestattet wurde.
 Bruno Doessekker machte am Freien Gymnasium Zürich die
 eidgenössische Matur, wurde Musiker und Instrumentenbauer, Vater von
 drei Kindern. Da seine leibliche Mutter keine weiteren Kinder hatte,
 fiel ihr Nachlass an ihn, der das kleine Erbe wohl antrat. 1985
 starben auch seine Adoptiveltern. Seither lebt Bruno Doessekker in
 Wohlstand. Auch wenn er seine Türschilder mit der neuen Identität
 beschriftet ­ Binjamin Wilkomirski ist ein Pseudonym, sein Träger
 war nie als Insasse in einem Konzentrationslager.

 All dies musste mit grossem Recherchieraufwand herausgefunden
 werden, weil Wilkomirski alias Doessekker die Einsicht in die
 betreffenden Akten nicht gestattet, was als Privatmann sein gutes
 Recht ist, aber auch bestätigt, dass er tatsächlich von den Akten
 betroffen und Geheimnisherr in Sachen der verstorbenen Frau Grosjean
 ist. Die Veröffentlichung seines Buches und seine Vortragstätigkeit
 aber machen den Privatmann Doessekker zur öffentlichen Figur
 Wilkomirski, die sich Fragen derselben Öffentlichkeit zumindest
 gefallen lassen muss.

 Unsere Recherche lässt keinen andern Schluss mehr zu: Wilkomirski
 ist in der Schweiz geboren, in bestem Zürcher Hause aufgewachsen.
 Sein Buch wäre als Roman diskutierbar. Es entbehrt nicht der
 historischen Sorgfalt. Schliesslich hat der Autor, wie uns erzählt
 wurde, in Genf Geschichte studiert, ein Lizentiat über die Konferenz
 von Evian angefangen und Geschichte weiterhin aus Leidenschaft
 betrieben, was sein immenses Archiv bezeugt. Nun beansprucht sein
 Buch aber explizit Zeugenschaft.

 Wir versuchen seinen schreibenden Akt zu verstehen, der offenbar so
 weit ging, dass sich der Autor eine Romangestalt mit Haut und Haaren
 einverleibt hat.

 Irgendwo auf der Grenzlinie zwischen Fiktion und Geschichtsforschung
 muss ihm die Distanz zu seinem erschriebenen ich eingestürzt sein,
 so dass er ich wurde. Wilkomirski alias Doessekker ist kein
 Schriftsteller. Sein Bericht bewegt sich nicht im Reich der
 Literatur. Er ist wahrscheinlich die verinnerlichte Bildersammlung
 eines Menschen, dem die Phantasie durchgebrannt ist ­ ganz
 unabhängig davon, ob es einen Wilkomirski gegeben haben könnte, von
 dem Doessekker die Grundzüge seiner Lebensgeschichte im KZ entlehnt
 hätte.

 Aber das erklärt nicht den überwältigenden Erfolg. Es erklärt nicht,
 weshalb jedes ernstzunehmende Feuilleton dieses Buch gefeiert hat,
 als handle es sich um die Originalniederschrift des Alten
 Testaments. Es erklärt auch nicht, dass die halbe
 Psychoanalytikergemeinde von Zürich bis Israel sich so weit
 irreführen lässt, dass sie dem Glauben verfällt, statt beharrlich
 nachzufragen. Es erklärt nicht, wie allein in der Schweiz zwei Filme
 gedreht werden konnten, beide auch mit öffentlichen Geldern
 finanziert, die vorgeben, Dokumentarfilme zu sein, und der Figur des
 Binjamin Wilkomirski folgen, ohne auch nur einen Fakt aus dem Leben
 des Bruno Doessekker zu klären.

 Na und?, kann man einwenden, wenn es gut erfunden ist? Karl May sei
 auch nie bei den Apachen gewesen, sein Häuptling Winnetou nichts als
 eine Überhöhung damals vorherrschender Gesamttugenden, was die
 Bücher ja nicht schlechter mache. Und wenn ein Buch über ein
 Kinderschicksal aus dem Konzentrationslager diese Fülle an Mitgefühl
 provoziert, so mag es ebenso zur Erhebung seiner Leser beitragen.
 Nur: Karl May hat mit dem Häuptling der Apachen, mit Kara Ben Nemsi
 und wie sie alle heissen, literarische Figuren geschaffen, die
 jederzeit als solche erkennbar sind. Bruno Doessekker/Wilkomirski
 hat nichts zustande gebracht als ein Ich, das jede Frage nach der
 literarischen Qualität zu verbieten scheint.

 Die Realität der Konzentrationslager dient ihm als Rohmaterial für
 eine fiktive Biographie. Spätestens bei Erscheinen seines Buches und
 dem überraschenden Echo muss er sich entschlossen haben, der Mitwelt
 gegenüber zu verkörpern, was er sich ausgedacht hat. Seine
 Kreativität beschränkt sich auf die mimetische Schauspielkunst.
 Wo Winnetou heute auf einer Freilichtbühne in Bayern auftritt, weiss
 jedes Kind, wie der Schauspieler heisst. Bei Wilkomirski aber, der
 auf vielen Bühnen tanzt, verhält es sich anders. Er hält Vorträge,
 bietet seine Dienste als Experte für Rückgewinnung von Identität an,
 nimmt Gelder öffentlicher Institutionen entgegen ­ alles unter der
 Voraussetzung, dass er der ist, für den er sich ausgibt. Tritt er
 wieder ab, meinen zum Beispiel die Schüler an einer Zürcher
 Kantonsschule, sie hätten mit eigenen Augen einen gesehen, der
 leibhaftig aus der Hölle zurückgekommen ist. An die Hölle glaubten
 sie nie.

 Aber nun müssen sie erfahren, dass auch der Zeuge falsch war. Bald
 glauben sie gar nichts mehr, und morgen schon neigen sie dazu, dem
 zu glauben, der ihnen erzählen will, dass Auschwitz nur ein
 Arbeitslager war, wo leider auch ein paar Insassen zuviel gestorben
 seien. Gerade vor der Faktizität der Todesfabriken, von den Nazis so
 angelegt, dass niemand ihre Existenz je für möglich halten würde,
 kommen der Zeugenschaft und dem Vertrauen, das die Nachwelt in sie
 haben können muss, eine besondere Verantwortung zu. Es erscheint
 menschlich, dass man einem, der aussagt, im Innern der Hölle gewesen
 zu sein, um so mehr glaubt, als er durch seine Person so plastisch
 bezeugt, was sich unsere Gedanken niemals anzueignen vermögen. Er
 nimmt uns die Aufgabe des Nachdenkens und die erschütternde
 Erfahrung des Versagens unseres Menschenverstandes vor dem Faktum
 Auschwitz ab.

 Wir benützen das Erleben des andern, um nicht denkend wettmachen zu
 müssen, was sich der Vorstellungskraft entzieht. Gedankenlos
 mitleidend, finden wir im Opfer den Helden, mit dem wir uns auf der
 Seite der Moral verbrüdern können: Binjamin Wilkomirski. Wer uns
 dies ermöglicht, braucht mehr nicht zu leisten, als sich vor das
 Eingangstor nach Auschwitz zu stellen: «Ich bin derjenige, der von
 dort kommt!»

 Es mag erstaunen, wie billig sich die Rezipienten und
 Multiplikatoren in Film und Literatur abspeisen lassen. Dass ihnen
 aber vor einem Konstrukt wie Wilkomirskis Lebensgeschichte nicht nur
 die Freiheit zu fragen, sondern auch der Mut des eigenen Urteils
 abhanden kommt, muss erschrecken. Mit dieser Urteilsunfähigkeit
 bleibt auch der Anspruch auf Qualität auf der Strecke ­ was die
 einmütig überhöhte Meinung zu Wilkomirskis und anderer schlichtwegs
 schlechter Produkte hiesiger Literatur und Kunst belegt.

 Dass Auschwitz nun aber als Fundus der Lebenslüge von Leuten dient,
 die in ihrer Wohlstandsbiographie zuwenig Erzählenswertes finden, um
 daraus eine Legende zu spinnen, und dabei nach Gutdünken des
 Kulturbetriebes zur Verwurstung abgetragen wird wie im vorliegenden
 Fall: das muss zur couragierten Gegenwehr bewegen. Auch wenn wir
 davon ausgehen, dass erst die Leichtgläubigkeit vieler, die nur das
 Beste für ihren Opferhelden Wilkomirski wollten, Bruno Doessekkers
 Wilkomirski-Kreation zum Wahn verführt hat, man könne sich die
 exotische Lebensgeschichte eines jüdischen Kindes aus Riga
 überstreifen und fortan mit der faszinierenden Identität des
 Leidgeprüften durchs Leben gehen.

 Mitleid ersetzt das Denken
 Bruno Doessekkers Pseudologie fiel in eine Welt, die sich emsig
 damit beschäftigt, die Wundmale ihrer Geschichte mit Prothesen und
 Narkotika zu heilen. Wer will, schlägt sich auf die Seite der
 Gläubigen, wo unter mitleidsüchtiger Anteilnahme die schwärende
 Wunde Auschwitz im Körper der Menschheit schmerzlos weiter fault.
 Hier ist Mitleid ein erhebendes Gefühl. Es hilft über manchen
 menschlichen Abgrund, bringt uns den andern zwar nicht
 näher, aber uns wenigstens näher zu ihm hin.

 Wenn Mitleid, die letzte Tugend des guten Menschen, über den Abgrund
 von Auschwitz zu verführen beginnt, so schwindet genau das, was am
 Faktum selber den weltabgewandten Charakter und in der Folge die
 Schwierigkeit des Erinnerns ausmacht: die Bodenlosigkeit. Die
 industrielle Massentötung, das Zentrum des nationalsozialistischen
 Herrschaftssystems, verschwimmt zur Episode. Menschlichkeit füllt
 den Graben, vor dem unserem Verstand nur grauste, wäre der Versuch
 zu verstehen nicht immer wieder ein Akt des Widerstandes: gegen
 jenen Ort der Stille, der auf unser Nicht-Verstehen angelegt war und
 wo das Experiment der totalen Herrschaft in Erfüllung ging, während
 rundherum die Welt im Geschäft des Krieges abgelenkt war.
 Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker aber kennt Auschwitz und
 Majdanek nur als Tourist.
 

 

weitere Entwicklung in der Affäre Wilkomirski:

Binjamin Wilkomirski
Bestrafung gefordert
ZÜRICH. Der Schweizer Autor Daniel Ganzfried hat eine Bestrafung seines
Kollegen Binjamin Wilkomirski gefordert, weil dieser sich in dem
autobiographischen Buch Bruchstücke fälschlicherweise als
Holocaust-Überlebender darstellte. Der Suhrkamp Verlag hatte das Buch im
Oktober vom Markt genommen. "Die Betrogenen müssen ein Zeichen setzen,
dass es ihnen nicht gleichgültig ist, ob sie in Sachen Holocaust zu
Komplizen von Fälschungen, Lügen und Betrug gemacht werden", schreibt
Ganzfried, der den Skandal aufgedeckt hatte, in der Schweizer Weltwoche.

Ganzfried fordert nun nicht nur vom Suhrkamp Verlag eine deutlichere
Distanzierung von Wilkomirski, sondern auch von den jüdischen
Organisationen, die sich hinter den angeblichen Holocaust-Überlebenden
gestellt und ihm Preise zugesprochen hätten. dpa
FR/Feu, Sa-6.11.1999
==========================================
WELTWOCHE/Schweiz
Ausgabe Nr. 44/99, 4.11.1999

Simulierter Schrecken
Fall Wilkomirski: Der Skandal weitet sich aus
Von Ludwig Hasler
Manchen ereilt in seiner Belanglosigkeit der Horror vacui. Bruno
Doessekker schon gar.
Deshalb schlüpfte er in die Leidensbiografie Binjamin Wilkomirskis. Ein
der Hölle Auschwitz Entronnener ist in unserer schreckenslüsternen
Öffentlichkeit ganz einfach das Interessanteste. So weit, so bekannt.
Doch nun fand der eingebildete Jude eine Schicksalsgefährtin, Laura
Grabowski, die, wie er, Auschwitz überlebt haben will. Weshalb sich die
beiden wechselweise probat als Kronzeugen ihrer Geschichten dienen
können. Nur dass Laura Grabowski, die als Shoa-Opfer gewinnbringend
durch Amerika tourt und pikanterweise vom Schweizerischen Holocaustfonds
«entschädigt» wurde, in Wirklichkeit Lauren Stratford heisst und als
Kind so wenig im KZ war wie Doessekker.
Das betrügerische Geschäft mit dem Holocaust nimmt also weiter seinen
Lauf. Eine unerträgliche Geschichte, vom Suhrkamp-Verlag und von
jüdischen Organisationen zu lange geadelt. Geschichtliche Zeugenschaft
erträgt keine Zweideutigkeit. Virtuelle Wahrheitszeugen der
Leidensgeschichte der Shoa-Opfer beschädigen die Integrität der
tatsächlich Überlebenden und lösen die Faktizität der Todesfabriken in
beliebig verfügbaren Stoff für Identitätskosmetik und
Betroffenheitskonsum auf.
Die Shoa, eine Fälschung?
Wie rasch sich Zeugnisse der Geschichte in die Zweifelhaftigkeit der
Bilder verflüchtigen, belegt die aktuelle Diskussion über die
Wehrmachtsausstellung. Einige der vielen hundert Bilder, die von
Verbrechen der deutschen Wehrmacht zeugen sollen, zeigen
höchstwahrscheinlich nicht, was sie aussagen sollten. Und schon rutscht
die ganze Dokumentation auf die Ebene des Dubiosen. Was ist authentisch,
was eingebildet?
Die Shoa, eine Fälschung, ein Truggebilde? Opfersimulanten wie
Wilkomirski und Grabowski liefern den Auschwitz-Leugnern die Argumente.
Deshalb muss das Hantieren mit Holocaust-Identitäten beendet werden.


Ausgabe Nr. 44/99, 4.11.1999
Binjamin Wilkomirski und die verwandelte Polin
Die Holocaust-Lüge Wilkomirskis muss geahndet werden. Denn die
Betrügereien nehmen weiter ihren Lauf
Von Daniel Ganzfried

Der Fall Wilkomirski ist zu seinem Ende gekommen. Der jüdische Verlag
bei Suhrkamp hat den Bestseller «Bruchstücke» vom Markt genommen. Über
ein Jahr musste es dauern, bis sich Siegfried Unseld den Fakten gebeugt
hat, wie ich sie in der «Weltwoche» am 28. August 1998 zum ersten Mal
ausgebreitet habe: Sein Autor Bruno Doessekker alias Binjamin
Wilkomirski ist kein Überlebender der Konzentrationslager. Er wurde am
12. Februar 1941 als Bruno Grosjean in Biel geboren, 1957 adoptiert,
wuchs verwöhnt in einer Zürcher Villa auf, fristete musizierend und
Klarinetten bastelnd sein Leben und hat sich vor lauter Langeweile
entschlossen, ein Kind des Holocaust zu sein.
Die ersten Reaktionen des Verlages, der Agentur Liepman, welche das Buch
weltweit vermarktet, und des weitverzweigten Netzes an Unterstützenden,
die Doessekker zur Seite standen, darunter so obskure Organisationen wie
eine bei Basel ansässige «Aktion Kinder des Holocaust», reichten von
grobschlächtig psychologisierenden Anwürfen an meine Person bis hin zur
Aussage: «Das wussten wir alles schon, aber trotzdem glauben wir
Wilkomirski.» Verschiedenste Versionen wurden herumgeboten, weshalb
seine Geschichte dennoch stimmen könnte: Behördenwillkür, verstorbene
Kinder, an deren Stelle Wilkomirski gesetzt worden sei, Verschwörungen
von Nazi-Ärzten, ein zweites «Kinder der Landstrasse» gar. Aber es blieb
bei Versionen, denen niemand nachgehen wollte, auch unsere
renommiertesten Historiker nicht, darunter Jacques Picard, Mitglied der
Historikerkommission Bergier, der sich in einem Zeitungsartikel und an
einer Podiumsdiskussion immerhin zu entsprechenden Spekulationen
hinreissen liess.
Eine ganze Weile lang fand man es also in Ordnung, den Fall motten zu
lassen. Was heisst: Man nahm es in Kauf, dass entweder Wilkomirski
weiter am Holocaust herumlügt oder Ganzfried und «Weltwoche» ungeahndet
ein wehrloses Opfer beschädigen dürfen. Eine höchst eigenartige
Toleranz, wenn man das schon fast vegetative Mitleiden in Rechnung
stellt, mit dem die noch lebenden Opfer des Holocaust täglich bedrängt
werden, und die begeisterte Anteilnahme nicht vergisst, die diesem Buch
und seinem Autor zum Durchbruch verhalf.
So ging es, bis die amerikanische Fernsehkette CBS in ihrem Programm «60
Minutes» im Februar dieses Jahres von mir beigebrachte Dokumente
veröffentlichte, die auch die letzten Schlupflöcher Doessekkers
schlossen: Das uneheliche Kind Bruno Grosjean wurde laut Stadtarchiv
Zürich schon am 13. Oktober 1945 als Pflegekind an der Adresse seiner
späteren Adoptiveltern Kurt und Martha Doessekker angemeldet. Mindestens
ab dem 7. Juni 1945 habe Kontakt bestanden. Die Vermundschaftsbehörde
Biel bestätigte den Tatbestand. In dieser ganzen unmittelbaren
Nachkriegszeit aber will Wilkomirski in Polen gewesen sein, will noch
Pogrömchen miterlebt haben, bevor er von einer Frau Grosz aus Krakau
entführt und über ein von ihm ungenannt gebliebenes Kinderheim zu den
Doessekkers nach Zürich geschleust worden sei.
In der Zwischenzeit sind im englischsprachigen Ausland grössere Artikel
erschienen - wie Philip Gourevitchs Arbeit im «New Yorker» unter dem
Titel «Memory Thief» -, die alle zum selben Schluss kamen: Das Buch
«Bruchstücke» ist kein autobiografisches Zeugnis. Endlich trat auch noch
die britische BBC auf den Plan. Ihr Regisseur Christopher Olgiati,
hierzulande bekannt durch seinen Film «Nazigold», hatte schon ein Jahr
zuvor Arbeiten für einen Film über Wilkomirski begonnen. Durchaus in
gutem Glauben an den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte, die sich ihm
gegenüber offenbar um den Aspekt erweitert hatte, dass der fragile Mann
ein Opfer von Mengeles medizinischen Versuchen gewesen sein wollte.
Davon war im Buch noch keine Rede gewesen.
Nun erst, im Februar diesen Jahres, entschloss sich die Literaturagentur
Liepman, den Historiker Stefan Mächler für ein Gutachten über den Fall
zu engagieren, das bei Abschluss dieses Artikels noch immer seiner
Veröffentlichung harrt. Nach einigem Zögern war ich zur Zusammenarbeit
bereit und öffnete alle meine Quellen.
Inzwischen meldete sich die Halbschwester des Bruno Grosjean. Sie führte
mich zu dessen leiblichem Vater in Luzern, und wir verbrachten einen
recht erhellenden Abend im Kreise der Familie, die 1995 so gerne den
verlorenen Sohn gefunden hätte. Aber über die Bieler Behörden hatte
dieser den Bescheid gegeben, dass von seiner Seite her kein Interesse an
einem Kennenlernen bestünde. Der Vater bestätigte, was ausserdem bekannt
war, namentlich dass der uneheliche Bruno Grosjean tatsächlich sein Sohn
ist und er auch die gesetzlichen Alimente bis zum Datum der vollzogenen
Adoption 1957 bezahlte. Mehr als das, er erklärte sich sogar zu einem
Bluttest bereit, um die Vaterschaft zu bezeugen.

Die missbrauchte Zeugin
Später rief eine andere Frau bei mir an und gab sich als die in der
deutschen Ausgabe Karola, in der englischen dann Mila genannte Freundin
Wilkomirskis zu erkennen. Sie war in früheren Jahren Bruno Doessekker
nahe gestanden und hatte ihm ihre Geschichte als Holocaust-Überlebende
erzählt. Sie bestritt vehement, Doessekker irgend einmal im Krakauer
Kinderheim getroffen zu haben, betonte, dass sie noch vor der
Drucklegung des Manuskriptes auch die Literaturagentin Eva Koralnik
davon in Kenntnis gesetzt habe, und zeigte sich äusserst entrüstet von
der ganzen Angelegenheit, in der sie sich als missbrauchte Zeugin
zurückgelassen sah. Sie überlege sich, Doessekker, Eva Koralnik und den
israelisch-schweizerischen Psychotherapeuten Elitsur Bernstein
einzuklagen. Vor allem Letzteren, denn er trage als die eigentliche
treibende Kraft die Verantwortung dafür, was Bruno mit ihrer Geschichte
angerichtet habe.
Verschiedene Zeugen sagten gegenüber Mächler und der BBC aus, namentlich
ein Herr Berti, Architekt in Zürich, seine verstorbene Frau war als
ehemalige Praxishilfe eng mit den Doessekkers befreundet, und ein Herr
René Aeberhard, heute wohnhaft in Kalifornien, von dessen Familie der
kleine Bruno Grosjean in Nidau bei Biel eine Weile betreut wurde, bevor
er nach Adelboden ins Kinderheim Sonnhalde kam. Sie bekräftigten anhand
von Fotografien, dass Bruno Grosjean und Bruno Doessekker ein und
derselbe seien. René Aeberhard ging weiter und erkannte Szenen aus dem
Buch, wie das Spiel Wilkomirskis und seines Bruders Motti mit
Modellflugzeugen, als Begebenheiten, die sich im Nidauer Hause
zugetragen hätten.
Unterdessen hatte Mächler bei den Erbschaftsbehörden in Bern auch
herausgefunden, dass Doessekker das Erbe seiner verstorbenen leiblichen
Mutter nicht, wie ich irrtümlich selber noch meinte, 1981 von Gesetzes
wegen in den Schoss gefallen war. Bruno Doessekker hat deren Testament
angefochten, das ihn nicht berücksichtigte. Als «leiblicher Sohn»
erhielt er den ihm zustehenden Pflichtteil, einige zehntausend Franken,
anstandslos.
Der Fall Wilkomirski wäre also zu Ende. Doch ein neuer Skandal zeichnet
sich ab. Mitte Juni erreichten mich aus den Vereinigten Staaten
Dokumente, die ich angesichts der Brisanz sofort der BBC weitergab,
bevor ich sie auch Mächler zugänglich machte.

Die rührende Laura
Los Angeles, 19. April 1998, landesweiter Holocaust-Gedenktag:
Wilkomirski gibt zusammen mit einer Laura Grabowski in der Synagoge
Shaarei Tefila ein Konzert. Er bläst die Klarinette. Sie spielt Klavier.
Kol nidre und Eigenkompositionen. Grabowski hatte ihm 1997 nach der
Lektüre seines Buches geschrieben, dass sie als Überlebende von
Auschwitz ein ähnliches Schicksal teile wie er. Wilkomirski bestätigte,
sich aus Birkenau an sie zu erinnern. In Los Angeles treffen sie sich
endlich, fallen einander in die Arme. Er ist ihr Binji, sie seine kleine
Laura, und vor dem anwesenden Publikum, das teils vor Rührung zu weinen
beginnt, teils nicht weiss, ob Applaus angebracht sei, wiederholt
Wilkomirski seine Erinnerung an die kleine Laura mit den blonden Haaren
und den blauen Augen aus Birkenau.
Wer aber ist Laura Grabowski, diese Kronzeugin, die von Doessekkers
Freunden nach meinen Veröffentlichungen verzweifelt angerufen worden
war, um für Wilkomirski Stellung zu nehmen, doch eigenartigerweise
geschwiegen hat? Mit der Social-Security-Nummer 535 388 795 füllt sie im
September 1998 einen Antrag beim «Swiss Fund for Needy Victims of the
Holocaust/Shoa», kurz «Swiss Humanitarian Holocaust Fund», also dem
Schweizerischen Holocaust-Fonds, aus. Geburtsland Polen. Der Fonds
entspricht ihrem Antrag und schickt ihr per Scheck 502 Dollar, die sie
auch sofort einlöst. Später schöpft sie noch verschiedene andere
Institutionen ab, darunter den sogenannten Jewish Family Service of Los
Angeles, eine jüdische Sozialhilfeorganisation, die ihr zwischen 1998
und 1999 insgesamt mehr als 2000 Dollar überweist. Unterstützt wird sie
von einer Frau Tsiporah Peskin, einer der energischsten
Unterstützerinnen Wilkomirskis. Tsiporah Peskin sitzt zudem im
Direktorium der American Orthopsychiatrist Association und verleiht
Wilkomirski noch im Frühsommer diesen Jahres einen Preis für seine
wissenschaftlich-therapeutische Arbeit auf dem Felde der
Identitätsgewinnung für Holocaust-Überlebende.
Geht man nun aber der Social-Security-Nummer der Laura Grabowski nach,
so landet man bei einer Lauren Stratford, geboren am 18. August 1941 als
Laurel Rose Willson in Auburn, im US-Staat Washington (Geburtsschein des
Staates Washington, Reg.-Nr. 125). Lauren Stratford zeichnet 1988 als
Autorin des Bestsellers «Satan's Underground» (noch lieferbar) über
Kindsmissbrauch und satanische Rituale, begangen an ihr und ihren drei
umgebrachten Kindern. Sie wurde von Fernsehshows gefeatured (Geraldo,
Oprah), bis ihre Geschichte Anfang der neunziger Jahre von «Cornerstone»
als Erfindung entlarvt wurde, einem kleinen amerikanischen Magazin
evangelistischer Provenienz, das dadurch zu kurzer Berühmtheit gelangte
(www.cornerstonemag.com).
Nun also ersteht Lauren Stratford unter Mitwirkung Wilkomirskis wieder
auf, diesmal als KZ-Überlebende wie er, der sich an sie erinnert und ihr
bei der weiteren Erfindung ihrer Geschichte hilft, während sie die
seinige stützt. Frau Stratford alias Grabowski ist mittlerweile
untergetaucht. Weder die BBC noch die Journalisten von «Cornerstone»
oder «3sat», dessen «Kulturzeit» in Los Angeles recherchiert hat,
konnten sie auffinden. Wilkomirski schweigt vorderhand auch dazu, und
Tsiporah Peskin, E-Mail peskin@sirius.com, beantwortet keine Anfragen.
Da die ganze Geschichte durch meine Vermittlung im BBC-Film ebenso zu
sehen ist wie sie dereinst in Mächlers Report nachzulesen sein wird,
verzichte ich hier auf weitere Einzelheiten.

Das Geschäft mit dem Holocaust
Aber es gilt zur Sprache zu bringen, was die Affäre Wilkomirski brisant
macht: den Tatbestand des Betruges und wie er mit Hilfe eines namhaften
Verlags, einer respektablen literarischen Agentur und diverser
Institutionen im Geschäft mit dem Holocaust Einzug gehalten hat und
seine Wirkung entfaltet.
Wer will, mag Wilkomirski weiter zugute halten, dass er nicht ganz bei
Trost sei. Solche Erwägungen bleiben im Bereich der Spekulation und
entlasten von weiterem Nachdenken. Vielleicht spricht eine zerrissene
Psyche dereinst für mildernde Umstände und ein milderes Urteil. Ich
selbst bin schon früh zur Einschätzung gelangt, dass wir es mit einem
kalt planenden, systematisch vorgehenden Fälscher zu tun haben, dessen
eigentlich bemerkenswertes Handwerk die mimetische Schauspielkunst ist.
Aber auch dies ist nur unter den vielen Möglichkeiten eine.
Wichtig bleibt: «Bruchstücke» ist ein Buch, also ein veröffentlichtes
Produkt, das den gemeinsamen Willen mehrerer Leute und Stellen
voraussetzt, ganz egal, welche Motivation den Autor zum Lügen getrieben
haben mag. Keine Pathologisierung vermag den profitträchtigen Schritt in
die Öffentlichkeit zu erklären, mit dem der Tatbestand des Betruges erst
erfüllt war. Hätte Bruno Doessekker sein Garn im Privaten gesponnen, wir
könnten es getrost dabei bewenden lassen. Aber Bruno Doessekker war
nicht alleine, während er sich im thurgauischen Amlikon zwischen Judaika
und unverkauften Klarinetten sein neues Leben ausdachte. Jeder seiner
Schritte war moderiert von seinem Freund und Psychotherapeuten Elitsur
Bernstein. Dieser war einst in der Schweiz tätig. Am Institut für
Angewandte Psychologie (IAP) noch im letzten Semester als Referent
aufgeführt, wirkt er jetzt unter Holocaust-Überlebenden in Israel. Dort
figuriert er auch als Fachperson bei AMCHA, einer Vereinigung zur
psychologischen Hilfeleistung für Holocaust-Überlebende und Folteropfer,
die in der Schweiz einen Ableger kennt.
Bernstein hat die Erfindung und Konfektionierung der Figur Wilkomirksi
überwacht. Ebenso Doessekkers Lebenspartnerin Verena Piller, die früh
darauf drängte, dass ihr Bruno seine Fantasien aufschreibe und
weiterreiche, egal ob er damals noch Widerstandskämpfer im Warschauer
Getto war, Mit-glied des israelischen Ge-heimdienstes Mossad oder
Kampfpilot der Luftwaffe.
Bernstein führte Doessekker in jüdischen Kreisen ein, brachte ihn nach
Israel, wo es ihm zusammen mit der Hobbyhistorikerin Lea Balint gelingt,
Wilkomirski als rührigen Spurensucher ins Fernsehen zu bringen. Er
vermittelte den Kontakt zur Agentur Liepman und reiste bald mit ihm als
Dr. Wilkomirski, Historiker, durch die Welt, um vor Fachpublikum eine
sogenannte «interdisziplinäre Therapie» zur Identitätsgewinnung von
Opfern des Holocaust zu verbreiten. Unter verschiedenen Titeln
veröffentlichen sie gemeinsam einen Aufsatz, der bis heute nicht
zurückgezogen ist und so als öffentliche Anleitung zum Betrug gelesen
werden muss (erstmals im «Werkblatt», Zeitschrift für Psychoanalyse und
Gesellschaftskritik, 1997, Nr. 39).
Sie beanspruchen, weiter heilend und Biografien bastelnd tätig zu sein,
fünfzig Klienten sei schon geholfen worden. Der Fall einer Frau
Rappaport (wirklicher Name der Redaktion bekannt) aus dem bernischen
Lützelflüh wird später von Wilkomirski anlässlich der schon erwähnten
Preisverleihung vor den amerikanischen Orthopsychiatern in allen
Einzelheiten ausgebreitet. Auch Frau Lea Balint ist weiterhin bemüht,
Kinderbiografien von Holocaust-Überlebenden zu erstellen. Sie liess sich
von Wilkomirski als Historikerin und Mitarbeiterin von Yad Vashem
ausgeben und hat es geschafft, für ihre Tätigkeit Gelder von der Jewish
Claims Conference zu erhalten.
Vor diesen scheinbaren Autoritäten war es wahrscheinlich weder an Frau
Koralnik, der Literaturagentin, noch an Thomas Sparr, damals
verantwortlich beim jüdischen Verlag, und schon gar nicht an Siegfried
Unseld, der ein paar Jahre zuvor noch Ruth Klügers «Weiterleben»
abgelehnt hatte, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Sie
schlugen alle Warnungen in den Wind und hielten gegen besseres Wissen am
autobiografischen Gehalt von Doessekkers Wilkomirski-Scharlatanerie fest
- obschon auch im Buche selber alles gegen ihn spricht: sei es die
Behauptung, sich an das frühe Kindsalter von zwei oder drei Jahren
plastisch zu erinnern, sei es die Insinuation, als Fünfjähriger
Krematorien und Gaskammern im KZ gesehen zu haben, aber lebend
davongekommen zu sein, sei es das erzwungene Alibi-Schlusswort, als
Schweizer Bürger eine «Verfügte Identität» zu haben und nichts als einen
behelfsmässigen Auszug aus dem Geburtsregister zu besitzen.
Vom Kitschpathos und der perversen Gewaltversessenheit nicht zu reden.
Alle historischen Unwahrheiten wurden darüber hinaus erst benannt, als
sich Raul Hilberg, Autor des Standardwerkes «The Destruction of the
European Jews, Chicago 1961», aus den Vereinigten Staaten dazu verlauten
liess.

Das Gütesiegel «Suhrkamp»
Die Tatsache aber, dass die billige Fälschung das Gütesiegel «Suhrkamp»
trägt (es ist ja erst provisorisch zurückgezogen, und auch nur in der
Hardcoverausgabe, als Taschenbuch wird es immer noch ausgeliefert), hat
erst verschuldet, dass Buch und Autor unhinterfragt zu ihrem Höhenflug
rund um die Welt segelten. Dazu kam das raffinierte Sperrfeuer, dem die
Rezensenten sich bereitwillig fügten: Jeder, der Genaueres wissen will,
wird zum Komplizen in der zweitmaligen Ausradierung eines jüdischen
Lebens. Genaueres Befragen war verboten. Bis im August letzten Jahres
die Blase geplatzt ist. Und erst jetzt, Anfang Oktober 1999, wird das
Buch verschämt aus dem Verkehr gezogen, nachdem der Verleger intern so
gehörig unter Druck geraten war, dass er seine erst noch in Interviews
gemachten Äussserungen, den Bericht Mächlers schon in der Hand, am Buch
als literarischem Meisterwerk festhalten zu wollen, ebenso vergessen
musste wie die trotzige Bemerkung, nichts Ehrenrühriges daran zu finden,
wenn die Identität des Autors halt offen bleiben müsse.
Wer trägt Verantwortung? Darf man sich auf den Standpunkt stellen, die
Wirkung des Buches entschuldige seinen tatsächlichen Hintergrund? Dazu
ist zweierlei zu sagen. Zunächst handelt es sich bei «Bruchstücke» und
Wilkomirskis Auftritten um eine Ansammlung von Clichés, deren Billigkeit
an sich schon ein Affront ist gegenüber den wirklichen Überlebenden des
Holocaust. Ich gehe aber weiter und stelle fest: Der Autor hat seinen
Post-Holocaust-Juden so zurechtfrisiert, wie man ihn sich in den
besseren Kreisen, denen er entstammt, eben vorstellt: weinerlich,
händereibend, geschlagen und gebrochen für immer, nachdem man den Juden
als Blutsauger und Christusmörder gerade erst losgeworden ist. Eine
Aneinanderreihung antisemitischer, von der Leserschaft ins Positive
interpretierter Zerrbilder, die umso mächtiger wirkten, als sie von
Juden und Überlebenden der Konzentrationslager selber für gut befunden
wurden. Aber man gefiel der verständigen Umwelt ja schon immer am
besten, wenn man das Bild verkörpern konnte, das sie einem abverlangte.
Hier war er nun, der Protojude, dieser Nach-Holocaust-Shlemihl.

Wie der Fall würdig zu beenden wäre
Dass auch die jüdischen Organisationen bis heute zu dem Fall schweigen,
nachdem sie den Autor jahrelang hofiert haben (inklusive der Verleihung
einiger namhafter Preise), muss als Indiz gewertet werden, wie schwer es
vor allem den europäischen unter ihnen nach wie vor fällt, ihre
politischen Interessen selber zu erkennen und zu vertreten. Lieber
lassen sie sich von andern vorrechnen, was gut für sie sei. Diesmal von
einem der angesehensten deutschen Verlage, der seine Holocaust-Lüge
aussitzen zu können glaubt. Denn eigentlich meint Unseld ja, Wahrheit
spiele keine Rolle, es gebe sie nicht, in der Erinnerung, auch wo man
davon spricht.
Da sich nun jüdische Organisationen, denen zu Recht oder Unrecht das
Erbe von sechs Millionen überlassen bleibt, dieser Haltung des
Schweigens und Aussitzens unterwerfen, droht ihnen der Mühlstein der
Wahrheit bald selbst am Halse hängen zu bleiben. Wenn die Erosion der
Faktizität von Auschwitz so weit fortgeschritten sein wird, dass auch
der Unterschied, in welchem Bekenntnislager die Lüge darüber
stattfindet, keine Rolle mehr spielt, wird ihnen ihr Schweigen von heute
die Sprache verschlagen.
Ich meine aber, dass noch eine Chance besteht, diesen Fall würdig und
verantwortungsvoll zu bewältigen:
Erstens. Es liegt ein kalt geplanter Betrug vor. Mehr noch, Bernstein,
Wilkomirski & Co. haben andere zum Betrug angestiftet und helfen weiter
dabei. Die Tatbestände gehören geahndet, Nachahmer abgeschreckt. Die
Betrogenen müssen ein Zeichen setzen, dass es ihnen nicht gleichgültig
ist, ob sie in Sachen Holocaust zu Komplizen von Fälschungen, Lügen und
Betrug gemacht werden. Verlag und Agentur haben ihre rechtlichen
Möglichkeiten auszuschöpfen, auch wenn sie sich dem Vorwurf der
Leichtfertigkeit oder gar Untersuchungen über eine eventuelle
Mittäterschaft aussetzen. Dasselbe gilt für Institutionen wie Schulen,
die den Autor zu bezahlten Vorträgen einluden und deren Schüler eine
Antwort auf die Frage «Na und.?» verdienen.
Zweitens. Es braucht eine unmissverständliche Distanzierung vom Buch,
vom Autor und von seinen Mittätern durch diejenigen Institutionen,
namentlich die jüdischen, die Preise gesprochen und ihre Autorität
sonstwie in die Waagschale geworfen haben.
Drittens. Eine ebenso klare Geste des Bedauerns und der Entschuldigung
muss an die wirklichen Überlebenden der Konzentrationslager gerichtet
werden, deren Integrität missbraucht und beschädigt ist. Eine solche
Geste kann darin bestehen, dass die mit dem Buch eingenommenen Profite
der Verlage und der Agentur an wohltätige Organisationen weitergegeben
werden.
Viertens. Institutionen wie Holocaust-Fonds müssen mit den Mitteln und
der Autorität ausgestattet werden, bei Zweifeln an der Identität von
Gesuchstellern seriöse Nachforschungen betreiben zu können. Erschlichene
Gelder werden zurückgefordert, Betrügereien geahndet und öffentlich
gemacht.
Als Ausgangspunkt muss gelten: Auch die Überlebenden der
Konzentrationslager sind Menschen, ihr Zeugnis nicht sakrosankt. Treten
sie in die Öffentlichkeit, müssen sie sich kritische Nachfragen gefallen
lassen.
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http://www.nzz.ch/online/01_nzz_aktuell/feuilleton/00_feuilleton.htm

Donnerstag, 4. November 1999

Wolf Gebhardt: Das Ende der Wilkomirskiade

Neue Recherchen bestätigen die These der Hochstapelei

Erst im Oktober hat sich der Jüdische Verlag bei
Suhrkamp entschliessen können, die
umstrittene Holocaust-Autobiographie «Bruchstücke»
Binjamin Wilkomirskis aus dem
Programm zu nehmen. Der folgende, neue Fakten
anführende Erfahrungsbericht des
Journalisten Wolf Gebhardt, der für eine BBC-Sendung
recherchierte und den Autor
mehrmals traf, macht einsichtig, warum.

Als ich Binjamin Wilkomirski Anfang März dieses
Jahres im Zwielicht seines Amlikoner Bauernhauses
zum erstenmal gegenüberstand, fiel es mir schwer zu
argwöhnen, dieser gebeugte Mann könnte seine
Holocaust-Autobiographie erfunden haben. Das gequälte
Lächeln und die brüchige Stimme mit
jiddischem Akzent - der Autor der preisgekrönten
«Bruchstücke» hatte augenscheinlich sehr gelitten.
Vielleicht in Auschwitz und Majdanek, als
Strassenkind in Krakau und später unter gefühllosen
Pflegeeltern in der Schweiz, wie er es beschrieb.
Ganz gewiss aber seit August 1998 unter den
Anschuldigungen des Schriftstellers Daniel Ganzfried:
Wilkomirski sei gar kein Jude aus Riga, sondern
ein unehelicher Sohn der Fabrikarbeiterin Yvonne
Grosjean aus Biel. Kein KZ-Kind Binjamin,
sondern deren am 12. Februar 1941 geborener Sohn
Bruno Grosjean sei vom kinderlosen Zürcher
Ärzteehepaar Doesseker in den vierziger Jahren
aufgenommen und 1957 als Bruno Doesseker
adoptiert worden.

Ganzfrieds Anschuldigungen entfesselten einen
weltweiten Skandal. Die BBC schickte mich in die
Schweiz, um für eine TV-Dokumentation der Sache
nachzugehen. Die Arbeit am Film hatte schon vor
dem Eklat begonnen. Wilkomirski alias Doesseker, der
als Musiklehrer und Klarinettenbauer arbeitet,
nahm den noch fremden Rechercheur freundlich auf. Er
hoffte auf Rehabilitierung. Es schien mir nicht
unmöglich, Wilkomirskis Ruf wiederherzustellen. Denn
Ganzfried hatte nur Indizien vorgelegt,
allerdings gewichtige: Bruno Doesseker sei schon im
Frühjahr 1947 eingeschult worden, zu einer Zeit,
als Wilkomirski angeblich noch in Polen war.
Vermeintlich 1939 geboren, sah er in der Schule auch
nicht älter aus als seine Kameraden und sprach
akzentfrei Schweizerdeutsch. Jugendfreunde
bezeugten, der Dandy habe später zu Phantastereien
geneigt. Gegen Wilkomirski sprach auch, dass er
das Erbe der 1981 in Bern verstorbenen Yvonne
Grosjean angenommen hatte, deren Sohn zu sein er
doch leugnete. Auch lehnte er einen DNA-Vergleich mit
ihrem noch lebendem Bruder ab.

Kein weiterer Eingriff

An langen Nachmittagen am Küchentisch bei Kaffee und
Zigaretten verteidigte sich Wilkomirski
geduldig: Er führte neue Fakten und Erinnerungen
sowie entwicklungspsychologische Erwägungen ins
Feld. Warf seinen Kritikern verleumderischen Neid
vor, warb um Verständnis für die Nöte eines
Künstlers. Nur hinsichtlich des DNA- Tests reagierte
er unwirsch. Als Mengele-Opfer lasse er keine
weiteren Eingriffe an seinem Körper zu.

Und sprach nicht auch einiges für Wilkomirski?
Erweckten er und eine amerikanische Pianistin namens
Lauren Grabowski nicht den Eindruck, sich aus
Auschwitz zu kennen? Beschrieb er nicht ein
Krakauer Kinderheim so präzis, dass ein ehemaliger
Insasse überzeugt war, Wilkomirski sei auch dort
gewesen, obwohl er sich nicht an ihn erinnerte? Eine
Durchsicht von Wilkomirskis Pässen ergab
jedoch, dass er schon seit 1969 häufiger nach Polen
gereist war. Dass er ein besessener Rechercheur
ist, bewiesen die etwa 2000 Bände Holocaust-Literatur
im Obergeschoss seines Amlikoner Hauses.
Leider fand sich auch weder in osteuropäischen Akten
noch in Schweizer Dossiers der Name
Binjamin Wilkomirski. Böse Zungen behaupteten, der
Klarinettist habe seinen Nachnamen der von
ihm verehrten Geigerin Wanda Wilkomirska entlehnt.

Selbst Wilkomirskis grösster Trumpf stach nicht: Wie
Leon Stabinsky, Vorsitzender einer
Überlebendengruppe aus Los Angeles, herausfand,
heisst Wilkomirskis vermeintliche Leidensgenossin
Lauren Grabowski eigentlich Laurel Wilson. Sie ist
weder Jüdin, noch war sie in Auschwitz. - Es sah
nicht gut aus für Wilkomirski. Weitere Recherchen
hatten auch ergeben, dass sich seine Geschichte
über die Jahrzehnte in höchst widersprüchlicher Weise
veränderte, bis sie in den «Bruchstücken» ihre
schriftliche Form fand. Auch konnten sich
Klassenkameraden und Lehrer nicht der spektakulären
Episoden aus der Zürcher Primarschulzeit entsinnen,
die der Autor in seinem Buch schildert. Längst
hatte ich zudem den Eindruck gewonnen, dass mich
Wilkomirski zu manipulieren versuchte. Er weinte
und log, fütterte mich mit anscheinend ihm günstigen
Dokumenten und verheimlichte die Existenz
belastender Papiere und Fakten.

Dennoch: Ganzfrieds Behauptung, Bruno Doesseker alias
Binjamin Wilkomirski sei identisch mit einem
Knaben namens Bruno Grosjean, war nicht bewiesen.
Wilkomirski tischte mir eine abenteuerliche
Vertauschungstheorie auf: Da er sich an fremdes
Spielzeug erinnere, hätten seine Pflegeeltern wohl vor
ihm schon ein anderes Kind bei sich gehabt; das müsse
Bruno Grosjean gewesen sein. Ein
wohlmeinendes Komplott der Doessekers sowie
schweizerischer Beamten habe ihm, dem Juden
Binjamin, die Identität Brunos gegeben, um ihn so vor
künftigem Antisemitismus zu schützen. Wo und
unter welchem Namen aber der echte Bruno geblieben
war, vermochte Wilkomirski nicht zu sagen.

Überraschenderweise erwies sich Wilkomirski als
ebenso manipulativ wie beeinflussbar: In harten
Verhandlungen brachte ich ihn dazu, mir die Akten
Bruno Grosjeans bei der Vormundschaftsbehörde
in Biel zu öffnen. Gemäss diesen Unterlagen hatte der
Knabe bei verschiedenen Pflegeeltern und
später im Kinderheim «Sonnhalde» in Adelboden gelebt,
bevor er am 13. Oktober 1945 zu den
Doessekers zog. Nach wochenlanger Recherche fand ich
in den USA schliesslich den Mechaniker
René Aeberhard, bei dessen Familie in Nidau bei Biel
Bruno Grosjean vom Sommer 1944 bis zum
März 1945 lebte. Auf einem ihm vorgelegten Photo, das
Bruno Doesseker im Sommer 1946 zeigt,
identifizierte Aeberhard den abgebildeten Knaben
eindeutig als Bruno Grosjean. Manche
Begebenheiten in Wilkomirskis Buch seien Spiegelungen
der Zeit in Nidau.

Es kam noch schlimmer für Wilkomirski: Die Bieler
Akten belegten, dass Bruno Grosjeans Vater noch
lebt. Die äussere Ähnlichkeit mit Wilkomirski ist
verblüffend. Bruno Grosjeans Vater, der seinen Sohn
noch nie gesehen hat, ist zu einem DNA-Test bereit.
Ich hatte mich allerdings hinter Wilkomirskis
Rücken mit ihm in Verbindung setzen müssen. Als
dieser von ersten Kontaktaufnahmeversuchen
erfuhr, war es für mich vorbei mit Besuchen in
Amlikon.

Die letzten Zweifel an der Fälschung beseitigte ein
Dokument aus seiner eigenen Hand. In einem Brief
an die Testamentsabteilung der Stadtkanzlei Bern
forderte Bruno Doesseker am 3. 11. 1981 den
gesetzlichen Pflichtteil aus dem Nachlass von Yvonne
Grosjean, «meiner leiblichen Mutter». Ihr Geld
war ihm also nicht aufgedrängt worden, wie er immer
behauptete. Im Gegenteil: Sie hatte Bruno
Grosjean enterbt.

Ein armer Narr?

Die neuen Fakten fechten Wilkomirski nicht an. Er
gibt sich als Opfer einer weitreichenden
Verschwörung. Ist er nun krank oder ein gerissener
Schwindler? Als phantasiertes Holocaust- Opfer,
so scheint es, versuchte er auf pathologische Weise
seine Identitätsprobleme als Adoptivkind zu
bewältigen. Doch Bruno Doesseker hat die wunden
Punkte seiner Wilkomirskiade zu listig verteidigt,
als dass man ihn nur für einen armen Narren halten
sollte. Der Schaden, den der KZ-Schwindler
anrichtete, ist gross. Es wäre jedoch kurzsichtig,
die Verantwortung allein bei ihm zu suchen. Das
«System Wilkomirski» - darunter Lebensgefährtin,
Freunde, Therapeuten - hat ihn teils fahrlässig, teils
vielleicht gar wider besseres Wissen zu dem werden
lassen, der er wohl gerade heute glaubt zu sein:
das grösste noch lebende Opfer des Jahrhunderts.

Neue Zürcher Zeitung, 4. November 1999