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Zulieferer
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Erwin Chargaff: Aufschrei des einzelnen. Die Schlacht- und Schießgesellschaft [aus: FAZ v. 15.5.1999]
Aus unerfindlichen Gründen betrachten sich die Vereinigten Staaten als Vertreter Gottes auf Erden. Das unter Korruption, Verbrechen und technischer Vollkommenheit erstickende Land maßt sich an, die Welt zu verwalten,
wenn auch die - gern anonyme - Macht, die es aus dem Hintergrund lenkt, andere und weltlichere Ziele verfolgt. Unter dem Vorwand, Frieden zu stiften, ja zu erzwingen, ist Präsident Clinton mit beiden Füßen, freudig
und gedankenlos, in eine Blutlache getreten, welche die ganze Welt zu durchdringen droht. Unsere Zeit hat das Recht auf Pathos verloren; dabei braucht sie es dringender als frühere Zeiten. Wohin man auch blickt,
tropft es von Blut, liegen Leichen auf dem zerwühlten Boden. Wann immer Amerika sich aufgerufen fühlt, tröpfelt es Bomben in der Nacht, so seit vielen Jahren auf Teile des Irak und jetzt in viel größerem Maßstäb auf
Serbien. Die “mit chirurgischer Schärfe und Genauigkeit” operierenden Bomber und Geschosse sind mehr scharf als genau, und so treffen sie Spitäler, Autobusse, Wohnhäuser und jetzt auch die chinesische
Botschaft in Belgrad. (Eine etwas weniger rechtgläubige Bombe hätte vielleicht die amerikanische Botschaft getroffen.) Oder sind die Waffen der Vernichtung wirklich genauer, als ich denke, so daß es allmählich ein
freudiges Händereiben gibt? Hat es sich nicht in den letzten Jahren oft herausgestellt, daß man die Übeltäter meistens unterschätzt?
Nach Feinden lechzend
Seit der Implosion der Sowjetunion, des “evil empire”, haben die Vereinigten Staaten nach Feinden gelechzt. Die Leute hier scheinen nicht schlafen zu können, wenn sie nicht anderen Menschen den Schlaf
verderben; dort herrscht der Pseudomessianismus. Jetzt hat die Meinungsfabrik des Landes den behördlich approbierten Urfeinden Castro, Gaddafi, Saddam Hussein einen weiteren Namen hinzugefügt: Miloschwitsch. Dessen
angestrebte Vernichtung “in Technicolor” schmückt seit mehr als einem Monat alltäglich die erste Seite der ,,New York Times". Schon am 2. April prangte dort eine herrlich kolorierte Fotografie der
durch einen Flugkörper zerstörten Brücke in der Stadt Novi Sad. (Ein trauriger Kontrast, denn der Name der Stadt lautet auf deutsch ,,Neugarten”.) Einen Tag später brannte, ebenfalls auf Seite eins, die
Polizeidirektion von Belgrad, während die Zeitung mir triumphierend mitteilte, daß zwei Ministerien auch vernichtet worden waren; eine Heldentat, an der, dienstbereit wedelnd, auch Herr Blair beteiligt war. Bin ich
der einzige, dem diese sich allnächtlich grauenhaft vermehrenden Schandtaten gegen ein kleines aufrechtes Volk nicht besonders imponieren? Die halbe Welt gegen elf Millionen! Wie steht es mit der bekannten
angelsächsischen Fairneß? Sind die angeblich links getönten Regierungen der großen europäischen Länder, sind Frankreich, England , Italien, Deutschland wirklich bereit, Angriffe mit Bomben, Raketen und bald auch mit
Truppen vorzunehmen, Angriffe auf einen kleinen Nachbarn, der ihnen nichts getan hat?
Die Greuel von Kosovo, deren bunte Abbildungen die Amerikaner beim Nachtmahl konsumieren, wurden sicherlich zum Teil durch den Versuch der Nato, ihnen zuvorzukommen, hervorgerufen. So sieht es eben aus, wenn
man sich in einen Bürgerkrieg hineinmischt. Allerdings wurde mir vor achtzig Jahren, als man mir im Gymnasium römische Geschichte beibringen wollte, erzählt, daß ein häufiger Trick des römischen Imperialismus darin
bestand, Unruhen in einem Grenzland erst anzuzetteln und dann zu benützen, um es zu erobern. Herr Clinton will sicherlich Serbien nicht erobern (obwohl Serbia feminin klingt); möglicherweise will er sein eigenes
Volk einiges vergessen machen. Oder kann es sein, daß geopolitische Schwachköpfe ihm eingeblasen haben, daß Hitlers Pläne für Osteuropa gar nicht so dumm waren? Obwohl die Absichten der CIA, seinerzeit explosive
Zigarren in Castros Mund zu plazieren, gescheitert sind, wer weiß, ob sie nicht gerade daran sind, einen speziellen Wodka für Jelzin zu präparieren?
Allerdings habe ich den Eindruck, daß der Plan, in Nachahmung des Sultans Murad (1389) die Serben nochmals auf dem Amselfeld zu vernichten, beim amerikanischen
Volk nicht sehr beliebt ist. Es erinnert sich nur allzu gut, daß seit dem Zweiten Weltkrieg die Großpolitik, die zum Koreakrieg, zum Vietnamkrieg und zum Golfkrieg geführt hat, ungeschickt und wenig erfolgreich
gewesen ist. Dieser Tage wird zu einem Protest gegen den gegenwärtigen Krieg vor dem Pentagon am 5. Juni aufgerufen. Es wird interessant sein zu sehen, wie diese Demonstration verläuft.
Aus historischen Gründen wäre es reizvoll zu erfahren, von wem die kosovarische ,,Befreiungsarmee”, die anscheinend den Anstoß zu allem, was folgt, geliefert hat, ihr Geld bekommt. Der Verdacht ist so
naheliegend, daß es sich nicht lohnt ihn auszusprechen. Die Panzerspinne, die ihre Netze überallhin ausstreckt, ist schlau, aber nicht weitsichtig. Es wäre die Groteske des Jahrtausends, wenn ein Dritter Weltkrieg
wieder in Serbien anfinge. Vielleicht hat er aber schon längst begonnen; beziehungsweise er hat seit 1914 nie aufgehört.
Komitees sind im allgemeinen wenig interessiert an der Lösung der Probleme, von denen sie schließlich leben. Für den Fragenkomplex, mit dem sich diese Zeilen befassen, gibt es deren drei: die Vereinigten Staaten, die
Europäische Gemeinschaft, die Nato. Es ist die Nato, in deren Namen der Vernichtungskrieg gegen Serbien geführt wird. In Wahrheit ist es natürlich Amerika, aber die anderen Mitglieder der freundlichen Organisation
helfen mit, hauptsächlich durch Scharwenzeln (gegen Honorar). Im Falle Deutschlands und Englands ist es ein bißchen mehr. Die ursprüngliche Hauptaufgabe der ,,North Atlantic Treaty Organization” war klar: Sie
sollte ein Bollwerk gegenüber der Sowjetunion sein. Mit deren Verschwindenhätte eigentlich die Selbstliquidation der Nato erfolgen müssen; aber weit entfernt, es wurden noch einige penetrant nordatlantische Länder
wie Ungarn oder Tschechien hineingelassen, denn, wie Anton Kuh einst sagte, als man ihn fragte, warum er nach Amerika gekommen sei: “Schnorrer kann man immer brauchen.” Die gegenwärtige Funktion der Nato
scheint die einer von den Vereinigten Staaten kommandierten Polizei zu sein. Ihre einzige Legitimation kommt von der Macht ihrer Waffen. Wenn das amerikanische Militär darauf drängt, neue Waffen am lebenden Leib
auszuprobieren, wird sich immer ein Anlaß finden. Wenn der Augenblick kommt, und er wird kommen, da diese Polizei in eine Auseinandersetzung zwischen zwei ihrer eigenen Mitglieder eingreifen muß, wird sie
wahrscheinlich beide gleichzeitig vernichten.
Mein privater Name für die Nato, die die amerikanischen Prinzipien der Moral zuerst in Europa und später auf der ganzen Welt durchsetzen wird, ist “Schlacht- und Schießgesellschaft”. Diese Bezeichnung
verdanke ich einer Assoziation aus meiner frühesten Jugendzeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ich entsinne mich eines Unternehmens, das sich mit der Überwachung nachts geschlossener Geschäfte befaßte. Es trug den
vormärzlichen Namen Wach- und Schließgesellschaft und war weit entfernt vom Schlachten und Schießen, worin die gegenwärtige Gesellschaft exzelliert.
Mit Lügen gefüttert
Von Milosevic weiß ich fast nichts. Wir werden mit Lügen gefüttert, mit gefälschten Bildern, mit erlogenen Nachrichten, die Dudelharfe hollywoodscher Sentimentalität ist so sehr in Schwung, daß ich zögere, irgend
etwas zu glauben. Ich leugne, daß es der Nato oder sonst wem gestattet ist, von Bestrafung zu reden. Gerechtigkeit ist die grausamste Gabe, die den Menschen gewährt ist.
Knifflige Advokaten können allerhand, aber mich werden sie nicht überzeugen, daß die Alliierten, als sie die deutschen und japanischen Übeltäter aufhängten, Gerechtigkeit übten; sie übten Rache. Als Thomas von Celano
in seiner wundervollen Sequenz schrieb: ,,nil inultum remanebit" (am Ende bleibt nichts übrig), dachte er an das Jüngste Gericht, nicht an die Nato.
lch kann nicht sagen, wie sehr mir das Ganze auf der Seele liegt, wie sehr es mich anekelt. Ein menschliches Nichts, ein flacher Sybarit, ein hirnloser General wird in manipulierten Wahlen oder sonstwie zum
mächtigsten Mann der Welt erkoren: Er drückt auf einen Knopf, und tausend Leben werden ausgelöscht; er befiehlt mutigen jungen Männern durch die Luft zu fliegen und aus dem heiligen Himmel Tod zu werfen auf die
unselige Stadt; und wir sitzen da vor den Zeitungen und Bildmaschinen und wackeln mit dem Kopf!
[Anm. FAZ: Der Biochemiker Erwin Chargaff, Pionier der Genforschung, zählt zu den schärfsten Kritikern des wissenschaftlichen Machbarkeitswahns. In den achtziger Jahren haben seine
Schriften die deutsche Friedensbewegung nachhaltig beeinflußt]
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