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Gideon Botsch: Der Zionismus. Eine jüdische Nationalbewegung

Die politische Linke in Deutschland – namentlich die radikale Linke – hat sich mit dem Zionismus schwer getan. Weite Teile der Linken sahen darin – im Gegensatz zu den »antikolonialen Befreiungsbewegungen« – keinen Ausdruck legitimen Strebens nach nationaler Unabhängigkeit, sondern ein Instrument des Imperialismus. Dem Judentum wurde der Charakter eines Volkes oder einer Nation weithin abgesprochen, es wurde auf seine religiöse Komponente reduziert.

Unabhängig davon, wie man Judentum von Außen definierte, bildete sich gleichwohl ein jüdischer Nationalismus heraus. In einer Stellungnahme zu diesem Problem nahm Joseph Roth bereits 1927 Gedanken vorweg, die der aktuellen »dekonstruktivistischen« Diskussion über den Charakter von Nationen sehr nahe kommen. Mit Blick auf die »jüdische Nation« formulierte er, daß »schon der Wille von einigen Millionen Menschen genügt, eine »Nation« zu bilden, selbst wenn sie früher nicht bestanden haben sollte«1.

Interessanter als die Frage, ob die Juden eine Nation seien, ist es mithin, zu betrachten, wie sich der nationaljüdische Gedanke in der zionistischen Bewegung konkret entwickelte, welche Dispositionen und äußeren Einflüsse ihn bedingten, und welchen Charakter die jüdische Nationalbewegung annahm. Als eine politische Bewegung ist der historische Zionismus zugleich ein interessantes Beispiel für die Verschränkung von »utopischer« Zielsetzung, langfristiger politischer Strategie und »realpolitischer« Taktik.

Mehrere Aspekte müssen zum Verständnis der jüdischen Nationalbewegung berücksichtigt werden. Ihre Entwicklung muß mit der Diskussion um die »Judenfrage« einerseits und der sich zum politischen Antisemitismus entwickelnden europäischen Judenfeindschaft andererseits in engem Zusammenhang gesehen werden. Zugleich steht der Zionismus aber auch im Rahmen einer breiteren Tendenz des Nationalismus in den drei östlichen Großreichen: dem russischen Zarenreich, der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie und dem osmanischen Reich. Ein weiteres strukturierendes Element ist der Konflikt des Zionismus mit der konkurrierenden arabisch-palästinensischen Nationalbewegung. Dieser Aspekt muß hier aus Platzgründen vernachlässigt werden.

»Judenfrage« und Nationalbewegungen

Eine »jüdische Frage«2 trat in die europäische Geschichte mit dem Entstehen des neuzeitlichen Territorialstaates und wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der europäischen Öffentlichkeit diskutiert. Dabei bezeichnete das »Judenproblem« zunächst nicht das Problem, das die Mehrheit mit den Juden hatte, sondern die miserable Lage, in der sich die Juden befanden und zwar in politischer bzw. rechtlicher, in ökonomischer und in sozialer Hinsicht. Europäische Juden waren in der Regel rechtlich gesehen keine Staatsbürger, sozial ausgegrenzt und ökonomisch – vor allem im Osten – mehrheitlich in prekärer Lage. Vorschläge zur Lösung des Problems zielten auf die volle bürgerliche Emanzipation der Juden. Schon früh bezogen sich Lösungsvorschläge allerdings auch auf territoriale Lösungen, insbesondere dort, wo die sozioökonomische Lage der Juden in den Blick geriet. Im Zuge der Emanzipation zeigte sich deutlich, daß die Judenfrage nicht mit der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung und der erhofften daraus folgenden Assimilation überwunden sein würde.

Territoriale Lösungsansätze führten, gefördert durch europäische Philanthropen, zur ersten Ansiedlung von jüdischen Kolonisten in »Überseegebieten« und auch im »Land Israel« (hebr. eretz jisrael). Die tief tradierte jüdische »Zionssehnsucht«3 hatte schon seit Jahrhunderten Juden bewegt, in die vier großen jüdischen Gemeinden im eretz: Jerusalem, Hebron, Tiberias und Safed zu ziehen. Diese Einwanderung wurde als alliya, als »Aufstieg« bezeichnet und meist von einzelnen aus vorwiegend religiösen Gründen begonnen. Im 19. Jahrhundert nahm die jüdische Einwanderung zu, wobei sich zunehmend religiöse mit sozioökonomischen Motiven vermischten. Die erste politische Einwanderungsbewegung war die Bilu’im der Jahre 1881/82. Diese frühen Zionisten reagierten bereits auf die neue Dimension der Judenfeindschaft.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und im Zusammenhang mit der Emanzipation der Juden wandelte sich die Bedeutung des Begriffs »Judenfrage«. Die Gegner der Emanzipation und Judenfeinde stellten in den Mittelpunkt nicht mehr das Problem, das die Juden hatten, sondern diskutierten die Judenfrage als ein Problem, das die Juden darstellten4. In Deutschland entstand der moderne politische Antisemitismus, der judenfeindliche Tendenzen auch in anderen Ländern beeinflußte. Von unmittelbarer Bedeutung für die Bilu’im war allerdings die russische Pogromwelle des Jahres 1880. Die Entstehung des Zionismus war auch eine der möglichen Reaktionen auf gescheiterte oder krisenhafte Emanzipationstendenzen, auf die Ausbreitung und Gewalttätigkeit der antisemitischen Bewegungen.

Die Entstehung des Zionismus war aber zugleich bedingt durch die Wandlung west- und mitteleuropäischer Nationalbewegungen zum chauvinistischen und imperialistischen Nationalismus sowie durch die Rezeption des westlichen Nationalismus in den entstehenden osteuropäischen und nahöstlichen Nationalbewegungen. Für diese Nationalbewegungen inklusive des Zionismus gilt, daß sie ihre Ideologie und politische Programmatik unter dem Einfluß des westlichen Nationalismus formulierten. Erste zionistische Programmschriften entstanden in Osteuropa; es ist indes bezeichnend, daß der Zionismus von einem Mann etabliert wurde, der im westlichen Nationalismus verwurzelt war. Der Ort der Entstehung des Zionismus als politischer Bewegung ist nicht zufällig Wien, die österreich-ungarische Residenz an der Schnittstelle von West- und Osteuropa. Der assimilierte österreichische Jude Theodor Herzl (1860-1904) wurde zum geistigen Vater der Bewegung, nachdem er als Journalist in Paris während der »Dreyfus-Affäre« den Antisemitismus erlebt hatte. Aufgrund dieser Erfahrung formulierte er den Gedanken einer Lösung der Judenfrage durch die Schaffung einer territorialen nationalen »Heimstatt« der Juden und leitete die organisatorische Formierung einer politischen Bewegung ein. Der 1. Zionistenkongreß tagte 1897 in Basel. Die soziale Basis der Bewegung bildete aber von Anfang an das Ostjudentum mit seinem großen jüdischen Proletariat.

Im Zuge und in der Folge des Ersten Weltkrieges brachen die drei Großreiche zusammen, nicht zuletzt durch die Dynamik der nationalen Bewegungen, die von den verschiedenen Kriegsparteien – Deutschland, England, Frankreich usw. – auch gezielt gefördert wurden. Die Nachkriegsordnung, die die Siegermächte in Osteuropa und dem Nahen Osten anstrebten, sollte auf der Grundlage des »Selbstbestimmungsrechts der Völker« basieren. Aus der Konkursmasse der alten Reiche sollten neue nationale Territorialstaaten gebildet werden. Doch angesichts der heterogenen Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur in weiten Regionen des Ostens ließ sich das Prinzip »ein Staat – eine Nation – eine Sprache und Kultur« in nahezu keinem der neu entstehenden Staaten ohne weiteres verwirklichen. Die Entfesselung der nationalen Dynamik verhinderte in vielen Fällen die friedliche Integration der verschiedenen »Ethnien« in multiethnische Staatsverbände.

Zur Lösung des Problems hatten die Siegermächte den Gedanken des Minderheitenrechtes etablieren wollen; Mechanismen zu deren effektiven Schutz konnten aber bestenfalls im Ansatz entwickelt werden5. Im Nahen Osten, wo Großbritannien und Frankreich unmittelbare imperialistische Interessen hatten, wurden Mandate errichtet, die die heutigen Grenzen weitgehend bestimmen. Palästina wurde geschaffen als westlicher Teil des britischen Mandatsgebietes. Hier, wo bereits seit längerem die zionistische Aufbautätigkeit begonnen hatte, war die »jüdische Frage« ohne Zweifel eine nationale Frage.

De facto war sie dies längst auch in Osteuropa. Spätestens mit dem Versuch der Etablierung nationaler Minderheitenrechte nach dem Ersten Weltkrieg zeigte sich eine Tendenz, die jüdische Bevölkerung als nationale Minderheit zu konstituieren. Auch verfassungsrechtlich wurden die Juden in vielen europäischen Ländern zu Angehörigen einer nationalen Minderheit und kamen in den Genuß verschieden ausgeprägter und verankerter Minderheitenrechts- oder Autonomieregelungen6.

Von anderen nationalen Minderheiten unterschieden sich die Juden gleichwohl: sie siedelten in den meisten Ländern des früheren Österreich-Ungarn und des westlichen russischen Reiches, ohne irgendwo ein territoriales Kerngebiet zu haben; sie waren überall mit verschieden starken antisemitischen Bewegungen konfrontiert; und sie hatten kein »Mutterland«, das auf die Einhaltung ihrer Rechte achtete.

Ein jüdischer Nationalstaat in Europa schied aus, der bolschewistische Weg zum Sozialismus löste die »Judenfrage« keineswegs und die Hoffnung auf Assimilation als Religionsgemeinschaft schwand in dem Maße, in dem sich der Antisemitismus in den Mehrheitsgesellschaften durchsetzte bzw. durch die nationalsozialistische Politik in Deutschland seit 1933, in Europa seit 1938. Die zionistische Option mußte also an Plausibilität gewinnen, zumal im Nationalismus nach wie vor ein sehr mächtiges Deutungsmuster bestand.

Der Zionismus als politische Bewegung

In Basel konstituierte sich der Zionismus als politische Bewegung. Mit ihr war zugleich eine kulturelle Bewegung verbunden, die quer zur bisherigen Auslegung jüdischer Überlieferung und Geschichte eigene Interpretationsstränge entwickelte. Im Sinne nationaler »Gründungsmythen« wurde das kämpferische Element betont. Zur historisch-kulturellen Legitimation spielten im Zionismus Sprache und Literatur eine zentrale Rolle. Jiddisch dabei als der Jargon des zurückgebliebenen Ghetto-Judentums. Dagegen sollte Hebräisch als gesprochene Alltagssprache neu zum Leben erweckt werden. Neben der Kulturbewegung entwickelte sich früh eine zionistische Sport- und Jugendbewegung. War der Zionismus in dieser Hinsicht anderen Nationalbewegungen vergleichbar, so standen seine ökonomischen Unternehmungen von vornherein unter dem Primat der Politik. Sie dienten vornehmlich dem Erreichen des politischen Zieles: der Schaffung einer »nationalen Heimstatt« der Juden.

Für die politischen Erfolge des Zionismus ist der Zusammenhang einer breiteren, vielfältigen Bewegung mit kultureller Ausstrahlungskraft und sozialer Attraktivität wohl von großer Bedeutung. Hier soll aber der Zionismus als politische Bewegung im Mittelpunkt stehen. Charakteristisch ist dabei die Verbindung verschiedener Strategien und die Ausdifferenzierung politischer Strömungen, die im Zionismus lange Zeit durch ein erstaunliches Maß an Pluralismus und innerer Demokratie integriert wurden. Ein Parteienspektrum differenzierte sich bereits in den ersten Jahren der zionistischen Bewegung aus. Ein Teil der »Kulturzionisten«, insbesondere osteuropäischer Herkunft, formierte sich in Opposition zum Führungsstil Herzls bereits auf dem 5. Zionistenkongreß 1901 zur »Demokratischen Fraktion«. Religiös ausgerichtet war das »Geistige Zentrum« (Misrachi), das sich im folgenden Jahr konstituierte. Seit 1903 entstand eine sozialistisch orientierte Arbeiterbewegung, deren soziale Basis das Ostjudentum bildete und die in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr zur dominierenden Kraft werden sollte. Die einzelnen Parteien fächerten sich im weiteren Prozeß auf, spalteten sich oder fusionierten. Wurzelnd in den Erfahrungen des Weltkrieges und der Nachkriegswirren trat zu den bestehenden politischen Richtungen eine nicht mehr klassisch konservative Bewegung, die zunächst gewisse Affinitäten zum italienischen Faschismus aufwies. Der sogenannte »Zionismus-Revisionismus« Wladimir Ze’ev Jabotinskys (1880-1940) war im Verhältnis zur Außenwelt weniger kompromißbereit als der bisherige Zionismus; im inner-zionistischen Streit richtete er sich gegen die Arbeiterbewegung und war weniger stark im Gedanken der Demokratie verankert. Die revisionistische Minderheit spaltete sich von der zionistischen Bewegung für längere Zeit auch institutionell ab und war in den 30er und 40er Jahren im wesentlichen eine bewaffnete Bewegung, die sich auch terroristischer Methoden bediente.

Neben den politischen Meinungsverschiedenheiten bewegte den Zionismus auf den ersten Kongressen ein weiterer Konflikt. Theodor Herzl und andere versuchten, das Hauptziel der Bewegung – Lösung der Judenfrage durch Schaffung einer nationalen »Heimstatt« – vornehmlich auf dem Wege der Diplomatie zu erreichen. In Palästina waren aufgrund der Politik des Osmanischen Reiches vorläufig wenig Fortschritte zu erwarten. Daher sollte zuerst eine europäische Macht als Protektor gewonnen werden. Die Vertreter dieses »politischen Zionismus« spielten in der Zeit vor Herzls Tod mit dem Gedanken eines alternativen Projektes in Ostafrika.

Während dieser »Uganda-Kontroverse« drohte die Spaltung der Bewegung. Gegen den Plan traten die »praktischen Zionisten« auf. Angesichts der Schwierigkeiten, auf politisch-diplomatischem Wege zu einem gesicherten Status in Palästina zu kommen, wollten sie die praktische Erwerbungs-, Erschließungs- und Siedlungstätigkeit im Lande vorantreiben. 1905 wurde auf dem 7. Zionistenkongreß in Basel eindeutig für eine Siedlung ausschließlich in Palästina votiert. Damit waren alle alternativen territorialen Pläne verworfen, nicht zuletzt, weil sie angesichts der insbesondere in Osteuropa tief tradierten Zionssehnsucht keinen geistigen Boden im Judentum gewinnen konnten. Daran zeigt sich, daß Nationen zwar keine Naturtatsachen, aber eben auch nicht einfach willkürliche Konstruktionen sind. Die »Konstruktion« von Nationen ist vielmehr Teil einer »sozialen Praxis«, die über vorgefundene Traditionen und Dispositionen nicht ohne weiteres hinweggehen kann.

Nach der Entscheidung von Basel wurde mit dem Aufbau organisatorischer, finanzieller und ökonomischer Instrumente zur planmäßigen Besiedlung begonnen. Damit war aber die »politische«, auf diplomatische Initiativen zielende Richtung im Zionismus keineswegs kaltgestellt. Während durch systematische Aufbauarbeit Fakten geschaffen wurden, verhandelte die Bewegung gleichzeitig auf diplomatisch-politischer Ebene um einen Status. Diese Doppelstrategie wurde als »synthetischer Zionismus« bezeichnet. Eine wichtige Rolle bei der praktischen Tätigkeit spielte Arthur Ruppin (1876 – 1943). Mit »deutscher Gründlichkeit« ging er seit 1908 an die Planung und Umsetzung der Besiedlung. An Ruppin zeigt sich auffällig, wie die neuen Nationalismen im Osten in den Ideologien des Westens wurzelten, wie stark sie von den Erfahrungen westlicher Länder beeinflußt waren. Wie andere zeitgenössische deutsche Zionisten war auch Ruppin, der unter anderem eine Arbeit über »Darwinismus und Sozialwissenschaft« verfaßt hatte, nicht frei von rassentheoretischen Einflüssen. Deutlich zeigt sich aber hier die Absicht, die bösartigen Zuschreibungen des aggressiven Rassenantisemitismus zu entkräften, ohne den Boden rassistischer Ideologie vollständig verlassen zu können. Daß es sich hierbei um eine Art »defensiven« Rassismus handelt, wird deutlich in Ruppins grundlegendem Werk zum »Aufbau des Landes Israel«. Trotz kulturchauvinistischer Zuschreibungen werden die Araber Palästinas als den Juden rassisch gleich und ebenbürtig angesehen. Daher erwartet und erstrebt Ruppin »ein Sichfinden der Juden und Araber auf einer gemeinsamen, durch ähnliche Rassenanlagen und ähnliche Erziehung bedingten Kulturstufe«7.

Dieses sehr konkret gehaltene Werk kann als Auswertung und programmatische Formulierung des »synthetischen Zionismus« gelten, also der Verbindung von praktischer Aufbauarbeit und politisch-diplomatischer Initiative. Die Tendenz, die sich in diesem Ansatz zeigt, ist für den Zionismus charakteristisch. Grundsätzlich ging die Bewegung lange Zeit von einem Primat der Politik aus. Die praktische Arbeit wurde durch die politische Zielsetzung vorgegeben. Dabei konnten verschiedene Auffassungen und Ansatzpunkte weithin integriert werden. Bezeichnend ist etwa, daß nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zwar das Ziel einer eigenen politischen Existenz nie aus dem Auge verloren, zugleich aber jedes Angebot, das als Schritt in diese Richtung hilfreich sein konnte, akzeptiert wurde. Mit dem Zerfall der Großreiche traten die Nationalbewegungen insgesamt in eine neue Phase ein. Auf der Grundlage der jeweiligen Ideologien wurde die politische Realisierung der nationalen Unabhängigkeit zu einem realen politischen Projekt. Mit dieser Situation veränderte sich die Struktur des Zionismus grundlegend. Seit Beginn des Jahrhunderts war eine palästinensische Nationalbewegung entstanden, die vor dem Hintergrund des pan-arabischen Gedankens den Konflikt mit der jüdischen Bevölkerung und zionistischen Einwanderungsbewegung begann.

Es wäre falsch, unkritisch der weitverbreiteten These zu folgen, die europäischen Zionisten hätten die arabische Bevölkerung Palästinas in ihren legitimen Ansprüchen einfach ignoriert. Das Problem wurde im Zionismus durchaus erkannt und kontrovers diskutiert8. Die Zionisten hatten sich offiziell in der Tradition Herzls und in Übereinstimmung mit der sogenannten »Balfour-Deklaration« von 1917 nicht auf das Ziel eines jüdischen Staatswesens festgelegt, sondern von einer »nationalen Heimstatt« gesprochen. Nicht zuletzt, um den arabisch-jüdischen Konflikt zu entschärfen, war die zionistische Seite bereit, von den durch das Völkerbundmandat festgelegten Angeboten für den Aufbau von Strukturen der Autonomie und Selbstverwaltung Gebrauch zu machen. Zeitweise gab es in Palästina die reale Chance, im Rahmen des britischen Mandats eine Art kantonales System einzurichten, in dem beide Seiten Selbstverwaltungskörperschaften aufbauen sollten.

Auch im palästinensischen Nationalismus hatten solche Vorstellungen eine gewisse Basis. Allerdings radikalisierte sich die palästinensische Nationalbewegung unter dem Einfluß des Muftis von Jerusalem, Haj Amin al’Husseini (ca. 1893-1974) in ihren Forderungen und Methoden zunehmend, was auch eine Radikalisierung innerhalb des Zionismus nach sich zog. Der Aufbau einer arabischen Selbstverwaltung wurde von palästinensischer Seite weitgehend boykottiert. Die Zionisten nahmen dagegen diese Möglichkeit wahr und schufen mit dem jischuw eine halb legale, halb illegale quasi-staatliche Struktur, die die Kernzelle für den späteren Staat Israel darstellte9.

Innerhalb dieser politischen Struktur spielten die Kräfte der Arbeiterbewegung die dominierende Rolle. Für den praktischen Aufbau des Landes kam ihnen ebenfalls große Bedeutung zu. Weite Bereiche der Ökonomie und Gesellschaft des jischuw waren nicht privat-kapitalistisch organisiert, sondern stellten verschiedene Formen vergesellschafteten Eigentums dar. Die größte Bedeutung hatte dabei das fast völlige Fehlen von privatem Bodenbesitz innerhalb des jüdischen Sektors. Auf dieser Grundlage wurden die verschiedenen Formen kollektivistischer Landwirtschaft aufgebaut, von denen die Kibbuzim nur die bekannteste sind. Schrittweise entwickelten die landwirtschaftlichen Kooperativen später auch den industriellen und den Dienstleistungssektor. Neben diesen Formen bildeten andere Genossenschaften sowie die gewerkschaftlichen Unternehmungen einen bedeutenden Anteil im jüdischen Sektor der palästinensischen bzw. seit 1948 in der israelischen Ökonomie. Insgesamt betrachtet kann die israelische Gesellschaft in ihren ersten Phasen nicht ohne weiteres als kapitalistische Gesellschaftsordnung betrachtet werden. Sie stellt vielmehr eine jener Mischformen dar, in denen Märkte und Elemente privatkapitalistischer Wirtschaft existierten, während der vergesellschaftete Anteil eine große, wenn nicht dominierende Rolle spielte. Insbesondere von der Notwendigkeit einer Bodenreform war der jüdische Sektor in Israel befreit, die für die bisherigen sozialistischen Experimente in der Regel zu einem Schlüsselproblem wurde. Die beschriebenen vergesellschafteten Sektoren sind allerdings auch in Israel, nicht zuletzt durch den Neoliberalismus stark bedroht.

Betrachtet man die zionistische Bewegung losgelöst vom weltpolitischen Konflikt der beiden Blöcke, so scheint es äußerlich keinen Grund zu geben, ihr die konkurrierende palästinensischen Nationalbewegung vorzuziehen. In ihrer Begeisterung für nationale Befreiungsbewegungen, zumal wenn sie sozialistische Elemente enthielten, hätte die radikale Linke theoretisch auch die Seite des Zionismus einnehmen können. Allerdings fehlt in dieser Betrachtung jenes weitere Merkmal, das für das Verständnis des Zionismus von Bedeutung ist: der Konflikt mit einer konkurrierenden Nationalbewegung um ein und das selbe Land.

Ausblicke

Der Zionismus als eine jüdische Nationalbewegung ist hier überwiegend in seinen Ursachen und seiner Entstehung dargestellt worden. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges trat die Bewegung in eine Phase des Ringens um eine selbständige Existenz, wobei die Form der Eigenstaatlichkeit mehr und mehr in den Vordergrund trat. Damit stand die Bewegung in Konflikt mit der Mandatsmacht und gleichzeitig mit der konkurrierenden palästinensischen Nationalbewegung. Zunehmend spielte dabei der bewaffnete Kampf eine Rolle. Im Gegensatz zu anderen nationalen Unabhängigkeitsbewegungen gelang es aber zumindest den Mehrheitszionisten, das Primat der Politik aufrechtzuerhalten.

Daß sich die zionistische Bewegung seit Erreichen der Eigenstaatlichkeit grundlegend wandeln mußte, liegt auf der Hand. Ein weiteres Mal bewies der Zionismus seine Fähigkeit, in den inner-zionistischen Konflikten plurale und demokratische Formen der Auseinandersetzung zurückzugewinnen. Die bewaffnete und terroristische Fraktion des Zionismus-Revisionismus kehrte 1948 zurück zur Form einer politischen Partei, die ihre Ziele mit parlamentarischen Mitteln im Rahmen der israelischen Demokratie verfolgte. In Kenntnis der Entwicklung vieler anderer bewaffneter Bewegungen ist hierin wohl eine bedeutende Leistung zu sehen.

Im weiteren Verlauf der israelischen Geschichte wirkten tiefgreifende demographische, soziale und politische Veränderungen auf den Zionismus ein, die seinen Charakter grundlegend veränderten. Mit dem Erstarken der nationalreligiösen Parteien und der Radikalisierung der israelischen Rechten im Verlauf des Nahost-Konflikts hat der Zionismus einen so umfassenden Struktur- und Funktionswandel durchgemacht, daß die politischen und gesellschaftlichen Ziele der einst säkularen Nationalbewegung seit einiger Zeit geradezu umgedreht erscheinen10.

Aber trotz der weltweiten Renaissance des chauvinistischen Nationalismus sind durch die Etablierung der palästinensischen Autonomie erstmals auch im Sinne einer eigenständigen politischen Existenz der palästinensischen Seite Fakten geschaffen worden. Die israelische Rechte bemüht sich massiv, diese Fakten rückgängig zu machen oder doch einzuschränken. Gleichwohl bleibt die Hoffnung, daß eines Tages der Gedanke des Nationalismus im Rahmen einer übernationalen jordanisch-palästinensisch-israelischen Konföderation beiderseits des Jordan überwunden wird.

 

 

Anmerkungen

1 Roth, Joseph, Juden auf Wanderschaft (1927), hier zitiert aus: ders., Orte. Ausgewählte Texte, Leipzig 1990. S. 212.
2 Vgl. zur »Judenfrage«, aber auch für die Geschichte des Zionismus, die grundlegende Darstellung von Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, 2. Bde., Stuttgart 1980.
3 Zion ist ein Synonym für Jerusalem. Vgl. Bein, Alex, Von der Zionssehnsucht zum politischen Zionismus. Zur Geschichte des Wortes und Begriffes »Zionismus«, in: H. Tramer/K. Löwenstein, Robert Weltsch zum siebzigsten Geburtstag von seinen Freunden, Tel Aviv 1961 [Robert-Weltsch-Festschrift], S. 33-63.
4 Diese Begriffsverschiebung weist Ähnlichkeiten auf zur gegenwärtigen Umdeutung des »Ausländerproblems« bzw. des Begriffes »Integration«. Das Problem ist nicht mehr das Problem der »Ausländer«, die Lösung liegt also nicht mehr in ihrer »Integration«, das Problem sind demzufolge vielmehr die »Ausländer«, die sich nicht integrieren können oder wollen.
5 Vgl. Hannah Arendts Darstellung im 9. Kapitel ihrer Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 51996, S. 559-625.
6 Vgl. das Stichwort Minderheitsrechte, nationale, der Juden (Verf.: Max Kollenscher), in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens, (Berlin 1927), Reprint: Frankfurt a. M. 1987, Bd. 4, Sp. 192-201.
7 Ruppin, Arthur, Der Aufbau des Landes Israel. Ziele und Wege jüdischer Siedlungsarbeit in Palästina, Berlin: Jüdischer Verlag 1919, S. 132 f. Vgl. auch ders., Die Juden der Gegenwart. Eine sozialwissenschaftliche Studie, (1904), Köln/Leipzig: Jüdischer Verlag 21911.
8 So etwa bei Ruppin, Aufbau..., S. 124 ff. Vgl. auch Zum jüdisch-arabischen Problem. Ein Sammelbuch. Hg. Deutscher Hechaluz, Nov. 1933.
9 Jischuw war die Bezeichnung für die jüdische Siedlung im eretz jisrael. Die vor-zionistischen Gemeinden galten als »alter jischuw«; die zionistischen Siedlungen als »neuer jischuw«. Für die Mandatszeit bezeichnet dieser Begriff aber zugleich die politische Selbstverwaltungsstruktur. In diesem Sinne wird er hier verwendet.
10 Vgl. Zimmermann, Moshe, Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion, Berlin 1996.

 

Quelle: http://www.nadir.org/nadir/periodika/arranca/17/index.html