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Gottfried Benn: Berliner Brief (Juli 1948)
an den Herausgeber einer süddeutschen Monatsschrift
Berlin, Sommer 1948
Zu Ihrem Anheimstellen eines Beitrages von mir für den Merkur erlaube ich mir folgendes zu bemerken: Ich bin in der besonderen Lage, seit 1936 verboten und aus der Literatur ausgeschlossen zu sein und auch heute
weiter unverändert auf der Liste der unerwünschten Autoren zu stehen. Ich kann mich daher nicht entschließen, mit einem beliebigen Beitrag nach so langer Zeit wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen, der
vielleicht in den Rahmen einer festgefügten Zeitschrift und in den Geschmack eines innerhalb bestimmter geistiger Grenzen lizenzierten Herausgebers passen könnte. Ich selber müßte den Beitrag nach Art und Umfang
genau bestimmen können und darauf sehen, daß er meine neuen Ideen vertritt...
Denn ich habe in den zurückliegenden Jahren einige neue Bücher geschrieben, die mich selbst zu erweiterten Erfahrungen gebracht haben, die aber im deutschen Literatur- und Kulturbetrieb nicht gefällig wirken
würden... Damit Sie nicht auf falsche Gedanken kommen, füge ich hinzu, daß mein Fragebogen in Ordnung ist, wie zahllose Recherchen und Nachprüfungen innerhalb meiner ärztlichen Sparte ergeben haben, ich gehörte
weder der Partei an noch einer ihrer Gliederungen, ich falle nicht unter das Gesetz – um so schwerwiegender wird dadurch die Argumentation der Kreise, die mich nicht wieder in der Literatur zulassen wollen.
Ich weiß nicht, wer zu diesen Kreisen gehört, und ich habe keinen Schritt unternommen, um mit ihnen in Berührung zu kommen. Der Ruhm hat keine weißen Flügel, sagt Balzac; aber wenn man wie ich die letzten fünfzehn
Jahre lang von den Nazis als Schwein, von den Kommunisten als Trottel, von den Demokraten als geistig Prostituierter, von den Emigranten als Renegat, von den Religiösen als pathologischer Nihilist öffentlich
bezeichnet wird, ist man nicht so scharf darauf, wieder in diese Öffentlichkeit einzudringen. Dies um so weniger, wenn man sich dieser Öffentlichkeit innerlich nicht verbunden fühlt. Ich meinerseits habe es nämlich
nicht unterlassen, die literarische Produktion der vergangenen drei Jahre auf mich wirken zu lassen, und mein Eindruck ist folgender: Innerhalb des Abendlandes diskutiert seit vier Jahrzehnten dieselbe Gruppe von
Köpfen über dieselbe Gruppe von Problemen mit derselben Gruppe von Argumenten unter Zuhilfenahme von derselben Gruppe von Kausal- und Konditionalsätzen und kommt zu derselben Gruppe von sei es Ergebnissen, die sie
Synthese, sei es von Nicht-Ergebnissen, die sie dann Krise nennt – das Ganze wirkt schon etwas abgespielt; wie ein bewährtes Libretto, es wirkt erstarrt und scholastisch, es wirkt wie eine Typik aus Kulisse
und Staub. Ein Volk oder das Abendland, das sich erneuern möchte, und manches läßt darauf schließen, daß es sich auch noch erneuern könnte, ist mit dieser Methode nicht zu regenerieren.
Ein Volk regeneriert sich durch Emanation von spontanen Elementen, nicht durch Pflege und Hochbinden von historisierenden und deskriptiven. Diese letzteren aber füllen bei uns den öffentlichen Raum. Und als
Hintergrund dieses Vorgangs sehe ich etwas, das, wenn ich es ausspreche, Sie als katastrophal empfinden werden. Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den
SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen. Das Zoon politikon, dieser
griechische Mißgriff, diese Balkanidee – das ist der Keim des Untergangs, der sich jetzt vollzieht. Daß diese politischen Begriffe die primären seien, wird von dieser Art Intelligenz der Klubs und Tagungen
schon lange nicht mehr bezweifelt, sie bemüht sich vielmehr nur noch, um sie herumzuwedeln und sich von ihnen als tragbar empfinden zu lassen. Dies gilt nicht nur für Deutschland, das sogar in dieser Hinsicht in
einer besonders schwierigen, fast entschuldbaren Lage ist, sondern ebenso für alle anderen europäischen Intelligenzen, allein aus England hört man gelegentlich eine andere Apostrophierung.
Werfen wir nun einen kurzen Blick auf diese politischen Begriffe und ihren Gehalt an degenerierender und regenerativer Substanz – zum Beispiel Demokratie, als Staatsprinzip das beste, aber zum Produktiven
gewendet absurd! Ausdruck entsteht nicht durch Plenarbeschlüsse, sondern im Gegenteil durch Sichabsetzen von Abstimmungsergebnissen, er entsteht durch Gewaltakt in Isolation. Oder das Humanitäre, ein Begriff, den
die Öffentlichkeit geradezu mit numinosem Charakter umkleidet – natürlich man soll human sein, aber es gab hohe Kulturen, darunter solche, die uns sehr nahestehen, die diesen Begriff überhaupt nicht
realisierten, Ägypter, Hellenen, Yukatan –, sein Sekundärcharakter im Rahmen des Produktiven, sein antigenerativer Zug ist evident. Alles Primäre entsteht explosiv, später erfolgt die Finessierung und
Applanierung – eines der wenigen unanfechtbaren Ergebnisse der modernen Genetik.
Diskontinuierlich, nicht historisch mutiert die Entelechie. Das ist ein allgemeines Gesetz. Wo aber immer bei uns sich im Geistigen etwas Primäres andeutet, ein vulkanisches Element, greift die Öffentlichkeit ein mit
Abtreibung und Keimzerstörung; erscheint die obengenannte Gruppe mit ihren Klubdebatteuren, Round-table-Vor- und Beisitzern, Versammlungsmatadoren, ruft auf, sammelt Unterschriften im Namen von Vergangenheit und
Zukunft, von Geschichte, von Enkelversorgung, von Mutter und Kind; – die Kulturphilosophen, Kulturdeuter, Krisenphänomenologen strömen zusammen, denunzieren, eliminieren, rotten aus – und natürlich auch
die Herren Chefredakteure in ihren großen PresseLimousinen als die beruflichen Dammrißflicker, leider heute, wie meistens, vor der Geburt – und alles dies zum Schutze von Demokratie und Humanität – was
soll also eigentlich das ganze Gerede vom Abendland und seiner Erneuerung und seiner Krise, wenn man sich doch nur das erneuern lassen will, was schon längst da ist, in seinem Rahmen nützlich, aber als
Regenerationsprinzip in Ausgangs oder Umschlagsstunden nur Atrophie und Formentspannung in seinem Schoße bergen kann.
Die Lage ist bedauerlich, denn neue Elemente sind vorhanden, das Abendland möchte einen neuen Absprung wagen. Es ist für mich kein Zweifel, daß eine zerebrale Mutation im Anzug ist, niedergehalten von allem, was
Öffentlichkeit heißt, unter Führung der staatlich geregelten Ausrottung alles Wesens. Und hier beginnt die Tragödie. Die Öffentlichkeit hat recht, sie hat geschichtlich recht. Denn die Elemente deuten auf ein Wesen,
das zerstörerische Züge trägt, neue, und das sind immer neue erschreckende Züge des depigmentierten Quartärs – der Mensch ist etwas anderes, als die vergangenen Jahrhunderte dachten, als sie voraussetzten, und
in seinen neuen Gedankenkonstruktionen wird er der abendländischen Idee von Geschichte keinen anderen Ort zuweisen als dem Wodukult oder dem Schadenzauber der Schamanen.
Gegen diese Öffentlichkeit meine eigenen tragischen Gedanken halten, ist nicht mein Beruf. Ich trage meine Gedanken allein; zu ihrem Gesetz gehört, daß einer, der seine eigene innere Grenze überschreitet und ins
Allgemeine möchte, unberufen, unexistentiell und peripher vor dieser Stunde erscheint. Ich trage auch die Einwände gegen sie allein. Ästhetizismus, Isolationismus, Esoterismus – “der Kranichzug der
Geistigen über dem Volk”, in der Tat, für diesen Vogelzug bin ich spezialisierter Ornithologe, für diesen Zug, der niemanden verletzt, zu dem jeder aufblicken kann, nachblicken kann und ihm seine Träume
übergeben. Sie richten sich also gegen den tierischen Monismus, daß alles zusammenpassen muß, alles für jeden dasein ohne inneres Erarbeiten, ohne Rückschläge, ohne das Erleben von Versagen, ohne haltungsbestimmende
Resignation. Und dann zielen sie auf einen Vorgang, der sich mir zu nähern scheint: das kommende Jahrhundert wird die Männerwelt in einen Zwang nehmen, vor eine Entscheidung stellen, vor der es kein Ausweichen und
keine Emigration gibt, es wird nur noch zwei Typen, zwei Konstitutionen, zwei Reaktionsformen zulassen: diejenigen, die handeln und hochwollen, und diejenigen, die schweigend die Verwandlung erwarten, die
Geschichtlichen und die Tiefen, Verbrecher und Mönche – und ich plädiere für die schwarzen Kutten.
Und damit endet mein Brief, für dessen Länge und Art ich um Entschuldigung bitte. Sie winkten mir freundlich mit einem Handschuh, und ich erwidere mit etwas wie einer Nilpferdpeitsche. Aber ich wiederhole nochmals,
ich verallgemeinere nichts, ich erweitere meine Existenz nicht über meine Konstitution. Sie sollten nur aus meinen Zeilen entnehmen, daß meine Besorgnis, nicht wieder gedruckt zu erscheinen, keine große sein kann
– mein Nihilismus ist universal, er trägt – er weiß die unausdenkbare Verwandlung.
Und damit leben Sie wohl und nehmen Sie Grüße aus dem blockierten, stromlosen Berlin, und zwar aus dem seiner Stadtteile, der in Konsequenz jenes griechischen Mißgriffs und der sich aus ihm herleitenden
geschichtlichen Welt nahe am Verhungern ist. Geschrieben in einem schattenreichen Zimmer, in dem von vierundzwanzig Stunden zwei beleuchtet sind, denn ein dunkler, regnerischer Sommer nimmt zusätzlich der Stadt die
letzte Chance eines kurzen Glücks und legt seit dem Frühjahr einen Herbst über ihre Trümmer. Aber es ist die Stadt, deren Glanz ich liebte, deren Elend ich jetzt heimatlich ertrage, in der ich das zweite, das dritte
und nun das vierte Reich erlebe und aus der mich nichts zur Emigration bewegen wird. Ja, jetzt könnte man ihr sogar eine Zukunft voraussagen: in ihre Nüchternheit treten Spannungen, in ihre Klarheit Gangunterschiede
und Interferenzen, etwas Doppeldeutiges setzt ein, eine Ambivalenz, aus der Zentauren oder Amphibien geboren werden. Danken wir zum Schluß General Clay, daß seine Skymasters diesen Brief hoffentlich bis zu Ihnen
befördern werden.
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