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FelS (Für eine linke Strömung) (http://www.nadir.org/nadir/initiativ/fels/): Autonomiefa(e)lle. Von Herrschaftsverhältnissen zur Assoziation freier Individuen

Autonomiebewegungen wurden in der Linken lange Zeit mit Emanzipation und Selbstbestimmung gleichgesetzt. Warf man das Schlagwort Autonomie in eine politische Debatte ein, konnte man eigentlich nie falsch liegen, stand es doch als Synonym für Befreiung von den bekannten Negativ-Ismen. Seit einigen Jahren scheint der Besitzanspruch der Linken auf das Wunderwort Autonomie in Frage zu stehen. In den neuen Bundesländern sprechen Neonazis von »national befreiten Zonen«. In Lateinamerika beschweren sich indigene Organisationen bei ehemaligen revolutionären nationalen Befreiungsbewegungen über zumindest impliziten Rassismus. Die NATO unterstützt im Kosovo eine nach Autonomie strebende Befreiungsbewegung mit der Begründung, die Menschenrechte einer ethnischen Minderheit zu verteidigen. Das tut sie in Kurdistan zwar nicht, aber der PKK ist inzwischen kaum noch ein sozialrevolutionärer Aspekt abzugewinnen. Migrantinnen und Schwarze Frauen werfen autonomen Frauen und Lesbengruppen aus Europa strukturellen Ausschluß nichtweißer Frauen sowie Ethnozentrismus vor. Ehemals linksalternative, kollektive Betriebe in der BRD sind zu lukrativen modern-kapitalistischen Kleinunternehmen mutiert oder haben die kollektiven Strukturen abgelegt und lediglich den Verkauf ihrer eigenen Arbeitskraft unter Marktpreis beibehalten.

Autonomie, Selbstorganisierung und Selbstermächtigung sind verschieden definierte Begriffe für unterschiedlichste soziale und kulturelle Bewegungen. Ein potentiell progressiver, antikapitalistischer und herrschaftskritischer Charakter wird erst in der konkreten Praxis einer Autonomiebewegung auf die Probe gestellt. In welchem Moment Autonomiebewegungen emanzipatorisches Potential entfalten und wie sich die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahre auf sie ausgewirkt haben, soll im Folgenden thematisiert werden. Zunächst jedoch versuchen wir darzustellen, auf welchen sozialen Grundlagen Autonomiebewegungen entstehen.

Ebenen von Herrschaft und Autonomie

Hinsichtlich der verschiedenen Formen von Herrschaft existieren – schematisch betrachtet – drei verschiedene Dynamiken der Abgrenzung: die konzeptionell nicht räumlich definierte, die transformatorische und die territoriale. Zur erstgenannten Dynamik gehört die Autonomie von strukturellen Unterdrückungsverhältnissen, die sich auf der körperlichen oder kulturellen Ebene im engeren Sinne festschreiben. Dazu zählen Befreiungsversuche, die das Recht auf sexuelle und sozio-kulturelle Lebensformen jenseits patriarchaler Zurichtung, rigider Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität einfordern. Dazu zählen auch überräumliche Autonomiebestrebungen mit Netzwerkcharakter, wie sie beispielsweise von MigrantInnengemeinschaften in der Diaspora ausgebildet werden.

Die transformatorische Dynamik zielt auf eine Veränderung sozialer und ökonomischer Verhältnisse ohne den vorgegebenen nationalstaatlichen Rahmen in Frage zu stellen und ist mit der Abgrenzung und Überwindung von kapitalistisch-imperialistischen Akkumulationsregimen zu beschreiben. Dazu gehören die in dependenztheoretischer Tradition stehenden und auf den nationalstaatlichen Rahmen bezogenen, u. a. in Lateinamerika häufig geforderten Alternativökonomien. Sie werden als Möglichkeit gesehen, aus der Abhängigkeit vom Weltmarkt, der damit verbundenen Ausbeutung nationaler Ressourcen durch transnationale Unternehmen und dem Abfließen der Gewinne ins Ausland auszubrechen. Schlagworte in diesem Zusammenhang sind »importsubstituierende Industrialisierung« und »Renationalisierung« der Naturvorkommen. Dies wird z. B. von den kolumbianischen Befreiungsbewegungen ELN und FARC gefordert. Weitere Formen im nicht-nationalstaatlich determinierten Kontext sind Selbstverwaltungsökonomien wie lokale Kooperativenmodelle und die Subsistenzökonomie. Eine andere Variante transformatorischer Befreiungsbewegungen stellt der revolutionäre Kampf gegen die kapitalistische Ausrichtung eines Nationalstaates dar. Durch Revolution sollen der gesamte bürgerliche Nationalstaat in einen sozialistischen Staat verwandelt, die Wirtschaft verstaatlicht und die Gesellschaft in eine klassenlose überführt werden.

Eine dritte Dynamik von Autonomiebewegungen wird als sezessionistisch bezeichnet. Ziel ist die Abspaltung eines bestimmten geographischen Gebietes von einem Nationalstaat angestrebt. Die Konstituierung dieser Autonomiebewegungen verläuft oft über ethnisierende und kulturalisierende kollektive Identitätsstiftung, wobei auf mythische oder tatsächliche nicht- (bzw. vor-) kapitalistische Produktionsformen in vorkolonialen Kulturen und Gesellschaften eines »verlorenen Paradieses« im beanspruchten Territorium zurückgegriffen wird, das durch die imperialistische Expansion im Zuge der Kolonialisierung »zerstört« wurde. Eine andere Spielart sind wohlstandschauvinistische Bewegungen, die ein prosperierendes Territorium von einem unterentwickelten »Hinterland« trennen möchten, wie dies mit der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens der Fall war. Hiermit reagieren sie unter anderem auf die Anforderungen einer globalisierten Ökonomie, die ein effizientes und handlungsfähiges politisches sowie infrastrukturelles staatliches Instrumentarium erfordert, das großflächige, sozial und kulturell heterogene Staaten nicht bieten können. Teilweise reagieren Sezessionsbewegungen auch auf rassistische oder religiöse Unterdrückungen einer ethnisierten Minderheit durch die Dominanzgesellschaft, wie heute die Kosovo-AlbanerInnen oder KurdeInnen.

Die genannten Dynamiken sind nun eher als Abgrenzungsbestrebungen beschrieben worden, die bestimmte herrschende und unterdrückende Strukturen auf körperlicher, sozio-kultureller und ökonomischer Ebene sowie die herrschaftsförmige Konstellation internationaler Beziehungen als Negativ-Counterpart bestimmen, um einen eigenen Weg zu entwickeln.

Es finden sich aber auch Autonomiebestrebungen, die für politisch-ökonomisch-kulturelle Projekte zum Aufbau »befreiter Gemeinschaften« eintreten und die sich nicht über Abgrenzung oder Reaktion auf Unterdrückung herstellen, sondern primär an eigenen Entwürfen orientiert sind. Beispiele sind die anarchistischen Kommunen in den USA des 19. Jahrhunderts, die auf Erlangung ökonomischer Unabhängigkeit zielenden Frauenhöfe im Mittelalter (Beginenhöfe) oder an Selbstbestimmung und Kollektivwirtschaft orientierte Landkommunen heute. Im Gegensatz zu den oben genannten Dynamiken, die auf gesellschaftliche Veränderungen zielen, enden diese Projekte nicht selten in gesellschaftlicher Isolation und verkümmern in esoterischem Eskapismus.

Die erläuterte Typologie ist – wie eingangs betont – notwendigerweise vereinfachend. Daraus folgt, daß keineswegs alle Autonomiebewegungen strikt einem der beschriebenen Schemata folgen müssen. Teilweise überlagern sich auch Elemente. So verbindet beispielsweise die Linke im Baskenland die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit mit einem emanzipatorischen Gesellschaftsentwurf, ist also gleichwohl als sezessionistisch und transformatorisch zu beschreiben.

Autonomie und Identität

Vor der Frage, welche Funktion kollektive nationale, ethnische oder kulturelle Identitäten für Autonomiebewegungen erfüllen, steht die Frage, inwiefern diese kollektiven Identitäten zur Sicherung von Herrschaftsverhältnissen hergestellt und instrumentalisiert werden.

Jeder Mensch hat ab dem Moment, in dem er »Ich« denken kann, eine Identität angenommen. Das heißt, er differenziert zwischen sich und seiner Umwelt, ordnet sich bestimmten sozialen Gruppen zu und grenzt sich von anderen ab. Diese Identität basiert entgegen bürgerlicher Ideologie weder auf einer freien und individuellen Entscheidung, noch ist sie die Summe unveränderbarer »persönlicher Eigenschaften«. Identitätsbildung ist vielmehr die erzwungene und verinnerlichte Verortung im Kontext eines Herrschaftsgefüges, ein Spiel aus Zuordnung und Abgrenzung. Eine der ersten und »hartnäckigsten« Identitäten, die ein Subjekt annimmt, ist die geschlechtliche. Es wird als männlich oder weiblich aufgrund der bei ihm festgestellten Geschlechtsmerkmale, die als männlich oder weiblich konnotiert sind, definiert. Im nächsten Schritt kommt es zur Übernahme der damit verbundenen Zuschreibungen in körperlicher, sexueller und sozialer Hinsicht. Die diesem Prozeß zugrundeliegende Form der Herrschaft besteht aus Zwang und Konsens zur rigiden Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität, wobei das »Maskuline« privilegiert wird.

Einmal als männlich oder weiblich auf den Weg gebracht, werden dem Individuum über weitere herrschende Diskurse und seiner Position in der Klassengesellschaft soziale Rollen zugeschrieben, die man ihm meist als Naturgesetze oder kulturelle Unabänderlichkeiten »verkauft«. Das Individuum wird zum Angehörigen einer bestimmten Nation, einer bestimmten Kultur, einer religiösen Gemeinschaft, einer sozialen Schicht – in jedem Fall zum Identitätsträger eines vermeintlich homogenen Kollektivs. Über diese Prozesse stellen sich jedoch soziale Realitäten her, die herrschaftsförmig organisiert sind. Weiß, männlich und heterosexuell ist die Norm, an der sich der Rest der Menschheit zu orientieren hat. Kennzeichnend für diese Norm ist allerdings nicht unbedingt, daß sie mittels eines sichtbaren physischen oder psychischen Zwangs zur Durchsetzung gelangt, sondern daß sie »unmarkiert« – ein unsichtbarer Konsens – bleibt.

Identitäten sind nicht undurchlässig, statisch und »natürlich«, deshalb ist Widerstand gegen die Zuschreibung von Identitäten möglich. Der Widerstand gegen beispielsweise rassistisch motivierte und homogenisierende Zuschreibungen ethnischer Identitäten führt allerdings meist zunächst zu einem weiteren – wenn auch selbstbestimmten und positiv besetzten – kollektiven Identitätsbildungsprozeß. Eine These ist, daß die Voraussetzung für Autonomieprojekte die Konstruktion einer kollektiven Identität, basierend auf ethnischen, kulturellen, sozialen, geschlechtlichen oder sexuellen Elementen ist.

Über die homogenisierende Zuschreibung von kollektiven Identitäten an soziale Gruppen und deren Abwertung wird Unterdrückung und Ausbeutung legitimiert. Dies erzeugt die bereits erwähnten sozialen Realitäten, auch wenn die Zuschreibungen aus Stereotypen bestehen und Konstruktionen sind. Deshalb ist die positive Wendung und Betonung dieser zugeschriebenen Identitäten zunächst oft die erste widerständige Praxis gegen eine Dominanzkultur und Klassenstruktur, um sich eine Subjektstellung anzueignen und sich artikulieren zu können. Beispielsweise stellt die (Wieder)Aneignung von Geschichte und Kultur sowie das Schreiben eigener Ursprungsmythen in den postkolonialen Diskursen indigener Bewegungen in den USA, Kanada und Lateinamerika ein wichtiges Element des Kampfes um Autonomie dar. Kritisch zu hinterfragen ist in diesem Zusammenhang allerdings die Übernahme hegemonialer Legitimationsmuster für eine kollektive Subjektstellung, ein Diskurs, in dem eine möglichst lange und »glorreiche« Geschichte nachgewiesen werden muß, damit ihre TrägerInnen die Anerkennung als »ernstzunehmende« Kulturgemeinschaft erhalten. Kontrovers zu diskutieren ist weiterhin die damit zumindest implizit verbundene Idee der Nation. Diese Idee läuft z. B. auch in indigenen und schwarzen Autonomiebewegungen oft Gefahr, hinter dem Bestreben, eine positiv besetzte, kollektive ethnische und kulturelle Identität zu bilden, Klassenwidersprüche und Geschlechtergegensätze verschwinden zu lassen.

Verharrt eine Autonomiebewegung also bei den Bestrebungen nach der Bildung und im weiteren dem Reproduzieren der kollektiven Identität einer aus verschiedenen Gründen vormalig unterdrückten sozialen Gruppe, ohne daß die weiteren Eckpfeiler kapitalistischer Vergesellschaftungsformen und Staatlichkeit als ein zentrales Instrument zur Regulierung und Durchsetzung sozialer, geschlechtlicher und rassistischer Normen hinterfragt werden, kann diese Bewegung einen regressiven Charakter annehmen oder auf den Kapitalismus bzw. den bürgerlichen Staat modernisierend wirken. Dies zeigt u. a. die Entwicklung großer Teile der westdeutschen Frauenbewegung von ’68, deren Protagonistinnen entweder in essentialistischer Manier nach dem »spezifisch Weiblichen« suchen oder für die Geschlechterdemokratie – eine Art »Patriarchatsamnestie« – eintreten. Die Befreiungsbewegung im Kosovo, so notwendig Widerstand gegen die ethnisierende Unterdrückung von serbischer Seite auch ist, nährt die Phantasien albanischer Nationalisten von einem Großalbanien. Und die Anerkennung eines kurdischen Staates würde zunächst zweifelsohne eine Schutzzone für die massiv vom türkischen Staat verfolgten KurdInnen bedeuten, könnte aber gleichzeitig auch die Durchsetzung völkischer Visionen nach innen zur Folge haben, in denen weder die Klassen- noch die Geschlechterfrage eine Rolle spielen.

Autonomie und gesellschaftliche Umbrüche

Der Wegfall der »realsozialistischen Option« seit Ende der 80er Jahre bedeutete und bedeutet weitreichende Auswirkungen auf die unterschiedlichen Formen von Autonomiebewegungen. So haben sich beispielsweise »nationale Befreiungsbewegungen« in den »Entwicklungsländern« bis 1989 in ihrem Kampf gegen imperialistische Dominanz und neokoloniale Unterdrückung im Zeichen des Kalten Krieges fast automatisch auf Seiten des »realsozialistischen« Blocks verortet. Dies führte in ihrer ideologischen Ausrichtung dazu, daß sich Nationalismus und »sozialistische« Elemente verbanden (Beispiele sind die FLN in Algerien, Vietkong in Vietnam, die kubanische Revolution etc.). Mit der Krise und dem Wegfall der realsozialistischen Option reduzieren sich in diesem Kontext entstandene Bewegungen immer mehr auf Kategorien wie Nation, Ethnie oder Religion, während der Kampf um soziale Befreiung nicht selten auf der Strecke bleibt.
Ob nationale Befreiungsbewegungen in der sog. »3. Welt« emanzipatorisches Potential entfalten oder sich auf essentialistische Kategorien zurückziehen, hängt also nicht zuletzt von den politischen Hegemoniekämpfen in ihrem inneren Bezugsystem ab, die maßgeblich durch globale Kräfteverhältnisse beeinflußt werden. Diese werden nicht zuletzt von den gesellschaftlichen Kräfteverhätnissen in den Metropolen mitbestimmt. Die Schwäche der Linken hier bedeutet also auch die Schwächung der Linken in den Befreiungsbewegungen der »3. Weltländer«. Auch wenn der bürokratisierte und letztlich konservative »Realsozialismus« nie ein uneingeschränkt positiver Bezugspunkt für revolutionäre Befreiungskämpfe war, bedeutet sein Verschwinden zumindest in diesem Zusammenhang einen Rückschritt in bezug auf die Möglichkeit, Autonomiebewegungen mit sozialrevolutionären Perspektiven zu verbinden. Selbst sich explizit als links verstehende Autonomiebewegungen, die nach 1989 aufgetreten sind, wie die Zapatistas in Mexiko, akzentuieren ihre Forderungen nach Anerkennung »indianischer Kultur und Identität« viel deutlicher als antikapitalistische Elemente ihres Programms.

Gleichzeitig kann die »nachsozialistische« Situation auch befreiend wirken, weil neu entstehende Bewegungen nicht mehr automatisch unter die reglementierende Kontrolle Moskaus fallen. Dafür sind die Zapatistas, die sich aus dem ML-Schablonendenken der 70er Jahre gelöst haben, ein positives Beispiel.

Einen zweiten Faktor für die Veränderung von Autonomiebewegungen stellen die Auswirkungen der Globalisierung dar. Wie anfangs angedeutet, können sich Autonomiebewegungen auch als überräumliche konstituieren. Diese Bewegungen basieren nicht auf der Inanspruchnahme eines fest umrissenen Gebiets, sondern bestehen als delokalisierte soziale Räume an vielen Punkten ohne sich innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates zu definieren.

Die These zum Bezug zwischen Autonomiebewegungen und der Delokalisierung sozialer Räume fußt auf der Annahme, daß sich soziale Räume und soziokulturelle Zusammenhänge durch erhöhte Mobilität und massive Migrationsbewegungen zwar gravierend deterritorialisieren, aber infolge dessen nicht unbedingt als Zusammenhänge verschwinden müssen. Das heißt, sie lösen sich nicht unbedingt auf oder vollziehen einen Assimilierungsprozeß an die Dominanzkultur, sondern konstituieren sich neu, ohne daß die sich vormals auf einen bestimmten territorial lokalisierten sozialen Raum bezogene sozio-kulturelle Identität aufgegeben wird. Beispielsweise finden sich heute in Paris, Berlin, London oder Amsterdam Stadtviertel, die von türkischen ImmigrantInnengemeinschaften geprägt sind. In allen wird eine ähnliche Sprache gesprochen, Infrastruktur und kulturelle Codes gleichen sich. Das bedeutet, daß die sich zu einer bestimmten community zugehörig fühlenden Menschen durch Migration ihre sozio-kulturelle Identität sowie ihre sozialen Räume nicht per se aufgeben müssen, sondern sozio-kulturelle Identitäten ausbilden können, die nicht an ein bestimmtes geographisches Territorium gebunden sind.

Ein weiteres Beispiel für ImmigrantInnen-communities, die diesbezüglich eine Praxis entwickelt haben und deren Strukturen Netzwerkcharakter aufweisen, sind die mexikanischen Gemeinschaften in den USA. Sie bauen ein weitverzweigtes Netzwerk auf, das von Sportvereinen über Nachbarschaftsinitiativen bis zu politischen Organisationen reicht. Diese Struktur beansprucht einen eigenen Platz in der weißen Dominanzgesellschaft und ist kulturell wie wirtschaftlich mit dem Herkunftsland der MigrantInnen verbunden. Sie selbst nutzen diesen delokalisierten sozialen Raum, um Lebensstrategien zu entwickeln, die New York zum »Vorort« eines indigenen Dorfes in Südmexiko machen.
In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß der Prozeß der Globalisierung von Produktion und die Intensivierung des Handels als Folge auch eine Stärkung überräumlicher Autonomiebewegungen zur Folge haben kann. Maßgeblich ist dafür auch, daß im Zuge der Globalisierung Migrationsbewegungen zunehmen und sich kommunikative Strukturen verbessern, die auch von sozial marginalisierten Gruppen eher in Anspruch genommen werden können.

Ein ganz anderer Aspekt der Veränderung des Kontextes für Autonomiebewegungen stellt der Rückzug des Staates aus seiner sozialintegrativen Funktion dar. Diese Entwicklung setzte auf internationaler Ebene Mitte der 70er Jahre ein und bewirkt, daß tendenziell verstärkt Potentiale der Aneignung gesellschaftlicher Funktionen durch soziokulturelle Autonomiebewegungen bestehen. Anschaulich wird dies insbesondere in Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch sozialpopulistische Regime geprägt waren und im Zuge neoliberaler Umstrukturierungsprozesse ehemalige staatliche Fürsorgesysteme etc. privatisierten. So bauen gesellschaftliche Gruppen, die vom Rückzug des Staates aus der bereits erwähnten sozial-integrativen Funktion am stärksten betroffen sind soziale Strukturen auf, die unabhängig vom staatlichen Eingriff oder sogar in Opposition zu ihm existieren und damit teilweise die Grundlage für die Artikulation von Autonomieforderungen bildet.

Die Auswirkung der wirtschaftlichen Globalisierung führen auch zu einer Verstärkung sezessionistischer Autonomiebewegungen. Während der binnenmarktorientierte Nationalstaat im Fordismus den Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus darstellte, ist im Zuge der Globalisierung zu beobachten, daß kleinräumige Entitäten den neuen Anfordernissen für eine wirtschaftliche Dynamik eher entsprechen. Zwar entstehen durch den Abbau von Zöllen und Handelsschranken immer größere Wirtschaftsräume, als Produktionsstandort für die Weltmarktproduktion eignen sich aber staatlich- gesellschaftliche Strukturen besser, die kleinräumig sind und deshalb schnell und flexibel reagieren können. Hierin liegt eine Ursache dafür, daß die Eliten verschiedener Regionen in Osteuropa für die Sezession von der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawien optierten, wie am Beispiel der baltischen Staaten oder Kroatien und Slowenien deutlich wird.

Autonomien und ihre emanzipatorischen Potentiale

Von Teilen der radikalen Linken in der BRD wird eine prinzipielle Kritik an Autonomiebewegungen vorgebracht, die auf kollektiven Identitätsbildungsprozessen basieren. Überspitzt formuliert geht diese Strömung davon aus, daß in dem Moment, in dem eine kollektive Identitätskonstruktion Anknüpfungspunkt für politischen Handels wird, emanzipatorisches Potential nicht mehr entfaltet werden kann, weil das Individuum zum Teil eines imaginierten »Großen Ganzen«, zum Teil eines »Volkskörpers« oder vergleichbarer Konstrukte wird. Die Folge: Aufrichtung von Herrschaft im Namen des übergeordneten identitätsstiftenden Mythos und gesellschaftlicher Ausschluß sowie Abwertung der als »Nicht-Zugehörigen« definierten Menschen. Obwohl diese Kritik in vielen Fällen richtig ist, klammert sie wichtige Aspekte aus. Einerseits beinhalten nicht alle Autonomiekonzepte eine kollektive Identitätskonstruktion, die im Kern essentialistisch ist und damit das Eigene über das Andere hebt. So fordern beispielsweise die Zapatistas indianische Autonomie lediglich als Mittel zur gesellschaftlichen Partizipation im Rahmen eines als pluriethnisch definierten Gemeinwesens und damit letztlich Gleichberechtigung, die den sich als Angehörige indianischer Gruppen verstehenden Menschen, von der mestizischen Dominanzgesellschaft stets verweigert wurde.

Andererseits basieren viele Autonomiebestrebungen auf politisch-sozial definierten Gesellschaftsprojekten, die überhaupt keine ethnisierenden Kriterien kennen. Zu nennen wäre beispielsweise der Versuch ein, multiethnisches Zusammenleben in Tuzla (Bosnien-Herzegovina) zu organisieren.

Außerdem negiert die Ablehnung kollektiver Identitäten, daß diese oft erst durch Zuschreibungen im Kontext der Aufrichtung von Dominanzgesellschaften entstehen. Die Forderung nach der Negierung der offensiv gebrauchten Identitätskategorien bedeutet in diesem Zusammenhang letztendlich die Forderung nach gesellschaftlicher Unterwerfung unter eurozentristische Deutungsmuster. In den meisten Fällen können sich die als KurdInnen oder JüdInnen bezeichneten Menschen ja nicht aussuchen, ob sie sich selbst als solche betrachten. Eignen sie sich diese Kategorien schließlich an, um sie zum Ausgangspunkt eines Kampfes gegen Diskrimierung zu machen, ist die Forderung nach Negierung der zugeschriebenen kollektiven Identität absurd, da sie lediglich eine Reaktion auf bereits existierende Unterdrückungsverhältnisse darstellt. Eine prinzipielle Kritik an der Aneignung kollektiver Identitäten endet daher schnell bei der Legitimation von dominanten Rassismen.

Es kommt bei der Analyse von Autonomiekonzeptionen und ihres emanzipatorischen Gehalts auf Differenzierung an. Ob Autonomiebewegungen emanzipatorische Potientiale entfalten, hängt einerseits vom sozialen Ort ab, von dem aus sie entwickelt werden. Ist es ein privilegierter Ort, kann sie zur Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen eingesetzt werden. Dies ist der Fall bei wohlstandschauvinistischen Sezessionsbewegungen wie die der ultrarechten Lega Nord in Italien. Andererseits können Autonomiebewegungen aber auch zur Selbstbemächtigung von strukturell unterdrückten sozialen Gruppen führen. Durch die Aneignung und positive Deutung einer zugeschriebenen kollektiven Identität brechen sie aus ihrer Objektfunktion aus und werden zu sozialen Akteuren, die Herrschaftsverhältnisse angreifen können. Die Selbstbemächtigung allein stellt hier einen emanzipatorischen Schritt dar. Ob sich dieses Potential in Richtung auf soziale Befreiung entfalten kann, entscheidet sich an den Kämpfen um die politische Hegemonie innerhalb der Autonomieprojekte.

Zwei Kernfragen sind in diesem Zusammenhang das Verhältnis zur Staatlichkeit und zum Eigentum. Wird die Machtfrage lediglich als Staatsmachtfrage gedacht, wie dies im Diskurs der traditionellen marxistischen Linken geschieht, tastet die Autonomiekonzeption gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, beispielsweise das Patriarchat, nicht an. Autonomieprojekte, die andererseits nicht auf die Überwindung der Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln zielen, klammern dagegen den Klassenwiderspruch aus. Klassengesellschaften sind aber immer staatlich formierte Gesellschaften, die Unterdrückungsmechanismen ausbilden.

Wenn Autonomien eine essentialistische kulturalistische oder biologistische Definition der kollektiven Identität zur Grundlage haben, tragen sie einen vorwiegend antiemanzipatorischen Charakter. Emanzipatorisch wirken dagegen Autonomien, die einen universalistischen Befreiungsanspruch haben, der alle Herrschaftsverhältnisse in Frage stellt. Das Ziel bleibt dabei die Selbstbestimmung des Einzelnen in der Assoziation freier Individuen.

Anmerkungen

Eskapismus: mentale u. a. individualistische Flucht aus den herrschenden Verhältnissen oder realer Rückzug in vergeblich herrschaftsfreie Mikrokosmen bzw. gesellschaftliche Nischen.