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Briefwechsel und Gespräche

Freie Gespräche

 

Freies Gespräch Nr. 1, Teil 1 (Teil 2)

Teilnehmer:

Mirko Tambach, Ex-FAP-Umfeld
Peter Jagodczynski
Peter Töpfer, nA
Maik Maier, Ex-FAP (kommt erst später dazu)

 

Tambach: Als ich Mahler das erste Mal gesehen habe, ist mir aufgefallen, daß er doch ein bißchen distanziert wirkte; mit anderen Worten: ein bißchen zu abgeklärt. Und da bin ich etwas ins Grübeln gekommen. Entweder ist es seine Art, oder was weiß ich: keine Ahnung.

Jagodczynski: Kann es sein, daß da so eine Art instinktive Distanz da war, die man gar nicht in Worte fassen kann? Genau dasselbe habe ich empfunden. Das schwere ist, das zum Ausdruck zu bringen oder logisch zu begründen gegenüber anderen. Aber das Gefühl wird bei mir immer stärker. Ich habe vom ersten Moment an gewußt: Wir werden keine Freunde werden. Da war so eine gefühlsmäßige Distanz, und die Skepsis wächst bei mir weiter.

Töpfer: Echt? Ich fand den eigentlich ganz sympathisch, und bin – soweit ich mit ihm zu tun hatte – ganz gut und locker mit ihm ausgekommen. Aber ich hatte nicht großartig mit ihm zu tun. Diese Kühle ist mehr so eine Art Arroganz: Alles Idioten!

Jagodczynski: Mahler hat ja nur mit wichtigen Leuten zu tun und hält sich ja auch für eine wichtige Person der BRD-Zeitgeschichte, und als vollwertige Gesprächspartner akzeptiert der eben nur Leute ab einem bestimmten Level. Dazu gehören wir bei weitem nicht. Mit Arbeitern will der nichts zu tun haben. Da ist allenfalls sein Oberlercher, mit dem er sich die Bälle zuwirft, und vielleicht Sander. Ansonsten ist er für Argumente nicht zugänglich. Das ist mein Eindruck gewesen. Übrigens ein Eindruck ganz im Gegensatz zu Sander.

Tambach: Bei Sander hatte ich immer das Gefühl, daß er in einem gewissen Sinne ziemlich abgehoben und arrogant ist. Wenn ihm Fragen gestellt werden, kommt nur: Na haben Sie meinen Vortrag nicht gehört? An Sanders Stelle würde ich etwas mehr auf die Leute eingehen und nicht so tun.

Jagodczynski: Nein, im Umgang mit Sander hatte ich immer den Eindruck, daß er auch mich, also einen kleinen Arbeiter, aber auch andere für voll nimmt. In manchen Diskussionen, da schaltet er auch mal ab; das geht gar nicht anders. Aber generell im Umgang mit Menschen ist Sander völlig anders als Mahler, egal welches Niveau man hat oder aus welcher sozialer Schichtung man kommt. Das war für Sander nie ein Problem.

Töpfer: Dann stell ich mir doch aber die Frage: Was habe ich mit Leuten zu schaffen, die mich nicht für voll nehmen? Da habe ich doch dort nichts zu suchen. Verscheißern kann ich mich doch auch alleine. Ich mach denen das aber nicht etwa zum Vorwurf, daß die mit mir nichts anfangen können.

Jagodczynski: Bei Oberlercher ist man – nicht so direkt, aber das klingt immer mit durch – der Vorzeigearbeiter.

Tambach: Wer? Du?

Jagodczynski: Ja. Ist ja ganz erbaulich, und ein bißchen Sozialprosa, und der Sander hat ein Faible für den und druckt den immer; dann müssen wir den mal hier ertragen. Eine gewisse bürgerliche Borniertheit spürt man doch immer. Die wird zwar nicht so artikuliert, aber ich habe für solche Sachen doch ein feines Gespür. – Ohne daß das für mich aber ein Problem wäre! Ich lach mich darüber kaputt. Ich bin schon mit ganz anderen Leuten umgegangen, und im Grunde fühle ich mich diesen Leuten alles andere als unterlegen, in keiner Form.

Töpfer: Das Problem ist bloß: Du hast Verständnis für die. Du fängst was mit denen an. Aber die fangen nichts mit dir an. Du bist für die Munition oder als Prolet zu instrumentalisieren. Das macht doch keinen Spaß.

Jagodczynski: Es war mein ganzes Leben ein Vorteil von mir, daß ich unterschätzt wurde. Damit konnte ich immer schön arbeiten. Ich bin ja nicht so ein einzelner Arbeiter, der ein bißchen was bewegt und der sich aus Geltungssucht bei diesen Bürgerlichen in ihren Kreisen bewegen will. Was ich aufschreibe und sage, das sage ich doch für meine Umgebung oder für mein Umfeld, bloß daß ich halt die Fähigkeit habe, das auszudrücken oder zu Papier zu bringen kraft meiner Sprache. Es ist nicht so, daß ich nur mein eigenes Süppchen kochen will. Es geht mir um mein Umfeld. Und das ist doch bei weitem vitaler und zahlenmäßig stärker als das Umfeld, aus dem die kommen, und vielleicht auch an der Wirklichkeit etwas näher dran als diese intellektuellen Herrenrunden in ihren Hinterzimmern.

Töpfer: Du würdest dir doch aber trotzdem wünschen, daß deine Klassengenossen auch etwas mehr zur Sprache kommen würden?

Jagodczynski: Daß die sich mehr trauen! Das ist auch eine Generationsfrage. Ich seh mich nicht nur als Vertreter meines Umfelds, sondern auch meiner Generation. Und das ist ganz entscheidend. Diese 68er Generation, diese 50- bis 60jährigen, also Mahler, Oberlercher etc. – Sander ist schon wieder eine Generation drüber –, die waren zuständig für die schonungslose Systemanalyse. Wir sind dafür zuständig, die Denkweisen zu entwickeln, die diese ganze Problematik überwinden kann, die danach folgt.

Töpfer: Woran liegt es, daß sich der Arbeiter nicht ausdrücken kann, daß Du so eine Art Ausnahme bist?

Tambach: Ich habe nicht das Gefühl, daß der Arbeiter sich nicht ausdrücken kann.

Jagodczynski: Er drückt sich in anderen Formen aus. Der Arbeiter drückt sich eben beim Fußball aus, indem er aus tausend Kehlen beim Pokalendspiel “Deutschland!” und “Ausländer raus!” gemeinschaftlich brüllt, ohne daß sich ein Polizeibeamter traut, in irgendeiner Art und Weise einzuschreiten

Tambach: Ich glaube einfach, daß diese intellektuelle Schiene, die von den Leuten, die wir genannt haben, gefahren wird, daß die niemals verstehen kann, daß man Politik oder Leben oder wie auch immer anders ausdrücken kann als in irgendwelchen Grundsatzdebatten, in irgendwelchen beschissenen Theoriedebatten, sondern daß man das auf einer Ebene abtun kann, die viel lebendiger ist, die viel ehrlicher ist. Die ist zwar einfacher, aber dadurch auch authentischer.

Töpfer: Der Arbeiter hat aber Scheu, diese Medien, die vom Intellektuellen oder vom Bürgerlichen besetzt sind, für sich zu erobern. Er hat Scheu, seine Sprache zu sprechen.

Jagodczynski: Diese Scheu wurde ihm auferlegt. Was ist denn, wenn einer mit einfachen Gedanken kommt? – Dann ist das “Stammtisch” und “Populismus”.

Töpfer: Die Stammtischsprache muß aber in die Medien hereingetragen werden. D.h., der Arbeiter, so wie er spricht, frei nach Schnauze, muß sich die Massenmedien erobern. Er darf keine Scheu mehr haben.

Jagodczynski: Aber nicht durch irgendwelche bourgeoisen Aussteiger, die meinen: Ich muß jetzt mal quatschen, wie sie meinen der Arbeiter es hören will. Als gutes Beispiel nehme ich diese Bierzelt-Ikone, diesen Schöhnhuber mit seinem sozialpatriotischen Schwachsinn: immer dasselbe Strickmuster, alles standardisiert und falsch! Und genau das ist es nicht! Der Arbeit muß seine eigene Sprache finden, sie selbst sprechen und seine eigenen Führer hervorbringen. Er darf sich nicht immer von den Bürgerlichen bevormunden lassen.

Töpfer: Du sagtest: Die Scheu ist ihm eingeredet worden. Daraus folgt aber nur eines: Er selber muß die Scheu überwinden.

Jagodczynski: Ja! Das haben wir doch erkannt!

Tambach: Ich habe ein anderes Gefühl. Ich denke, daß der Arbeiter gar nichts zu tun haben will mit dieser Ebene und aufgrund dessen ihm das eigentlich alles scheißegal ist, ob er jetzt vielleicht dort zu Wort kommt oder dort gehört wird, sondern daß er sich in einem Umfeld bewegt, was sein Umfeld ist, und er macht sich gar keinen Kopf um das ganze Gelaber.

Töpfer: Aber er will nicht nur mit der intellektuellen Ebene nichts zu tun habe, er will mit den Medien nichts zu tun haben.

Jagodczynski: Mit der politischen Ebene.

Töpfer: Er sagt sich: Ich habe mit diesen Medien nichts zu tun. Meine Frage ist: Sollte er – ja oder nein – diese Medien erobern? Warum überhaupt?

Tambach: Nein!

Jagodczynski: Er sollte weder die Politik, noch die Medien erobern. Der Arbeiter muß seine eigene Ausdrucksform finden, er muß die Form finden, wie er sein Leben lebt, wie er sich äußert, seine eigene Sprache.

Töpfer: Aber das ist doch auch eine Frage des Mediums.

Jagodczynski: Und in dem Maße, wie er sich sich selber mehr und mehr bewußt ist und sich in zunehmendem Maße äußert, und was damit auch wirklich Substanz hat, in dem Maße wird er dann politisch. Er muß nicht in die Politik reingehen. Er schafft Fakten und verändert, und das ist Politik, in seinem eigenen Sinn und Interesse. Er ist abgestoßen vom bürgerlichen Politik- und Medienbetrieb. Jünger hat das im “Arbeiter” ganz gut beschrieben: diese ganze Politik, das ist die Welt des Bürgers: verhandeln, alles absichern, bloß keinen Konflikt, bloß keine Gewalt, alles gegen Gewalt absichern... Und deshalb empfinde ich diese Hooligans auch so belebend: Das ist ein Einbruch des Elementaren in die Welt des Bürgers. Deshalb sind die auch immer wieder so geschockt. Deshalb muß es so weitergehen. Das sind die Ausdrucksformen des Arbeiters. Wir können auch Ausdrucksformen finden, die wir noch gar nicht kennen.

Töpfer: Du meinst, der Arbeiter soll die heutigen Medien links liegen lassen und seine eigenen Medien finden? Aber welche könnten das sein? Ich spreche von Massenkommunikationsmitteln. Oder seid ihr der Meinung, er braucht die gar nicht?

Tambach: Ich bin der Meinung, daß er sie nicht braucht.

Jagodczynski: Stammtisch!

Tambach: Das Massenmedium ist das Leben. Warum soll er irgendwas in die Medien setzen, meinetwegen seine Gedanken aufschreiben? Er soll einfach sein Leben führen, ohne daß nun unbedingt an irgendeine große Glocke zu hängen. Er braucht kein Massenmedium.

Jagodczynski: Richtig. Sein Medium ist seine Haltung: in seinem ganzen Umfeld, auf Arbeit usw. Seine Botschaft ist, daß er ganz anders ist als alle anderen durch eine gewisse Geradlinigkeit: daß er nicht vor jedem kuscht sondern selber seine Ideale verkörpert. Unser Medium ist der Stammtisch in der Kneipe, wo der Arbeiter nach Feierabend sitzt, ist die Pause, ist der Pausenraum bei den Kollegen. Das darf man gar nicht unterschätzen; das ist wesentlich meinungsbildender als irgendeine Zeitung. Die Arbeiter, mit denen ich zu tun habe, die lesen keinen Spiegel, die interessiert auch keine Politik-Magazine, die lesen höchstens mal die BZ.

Töpfer: Mir gefällt, was ihr sagt. Für mich war das immer ein Dilemma: Ich war der Meinung, der normale, einfache Mensch, also der von unten, der Eingeborene – um nicht immer Arbeiter zu sagen – müsse sich die Massenmedien erobern, was mir unsympathisch ist. Ich habe überhaupt keinen Bock auf Massenmedien. Eine Frage aber bleibt: diese Medien sind ein Machtfaktor. Können wir wirklich die Medien völlig links liegen lassen? Sollen wir tatsächlich maximalistisch und sofort unsere Vorstellungen umsetzen, an der Macht und also auch an den Medien vorbei?

Tambach: Ja.

Töpfer: Vermasseln die nicht gerade mit ihren Scheißmedien all unsere Träume? Müssen wir nicht mit diesen Medien rechnen?

Jagodczynski: Wenn man die Medien verfolgt hat in den letzten Jahren, muß man feststellen, daß sich die Wirklichkeit, wie sie der Arbeiter empfindet, in den Medien immer weniger abspielt. Dort wird nur eine heile Welt dargestellt. Eine ganz simple Beobachtung: Neue Fernsehserien werden nur noch nach amerikanischem Strickmuster gemacht. Früher spielten die Serien noch im deutschen Alltag. Heute ist das nicht mehr so. In der simpelsten Unterhaltung finden sie nicht ihre Wirklichkeit wieder. Und indem der Arbeiter seine Wirklichkeit nicht mehr wiederfindet, um so unglaubwürdiger werden sie. Man konsumiert sie zwar noch, aber sie sind nicht mehr wirklich meinungsbildend.

Töpfer: Soll es ein deutsches Fernsehen geben? Ihr wart ja eben der Meinung: nö, brauch es nicht. Weil die Pause, weil der Stammtisch Medien genug sind.

Jagodczynski: Mit welchem Hintergrund fragst du das denn? Willst du jetzt einen Fernsehsender aufbauen?

Töpfer: Es ist nur die Frage, ob wir uns überhaupt damit beschäftigen.

Jagodczynski: Ich verstehe nicht, was du meinst.

Töpfer: Wir sollten auch mehr in die Medien gehen. Es gibt da viel mehr zu tun, als die meisten von uns annehmen: offener Kanal z.B.; Radio Germania macht es ja auch, zwar etwas bescheiden und nicht unbedingt mein Geschmack, aber immerhin. Wir haben so viele talentierte Leute; ich kenne allein drei, vier Leute, die eine tierische Show abziehen könnten im Fernsehen und die gar nicht daran denken, daß ihrereins überhaupt irgendwas im Fernsehen zu suchen haben sollten, für die das Fernsehen oder die Medien entweder sowieso so verlogen ist, daß sie nie dort reinkommen würden, oder die sich das außer irgendwelchen Gründen, Scheu usw., nicht zutrauen. Wir sollten neben den Stammtischen auch diese Medien, die heute entdeutscht sind, erobern.

Jagodczynski: Wenn man es so mitnehmen kann: warum nicht? Wenn man da reinkommt: warum nicht? Man muß ja alles versuchen. Aber so wie viele Oppositionelle sagen: Ja, wir müssen die Medien erobern und dann liefe alles wie von selbst, das lehne ich ab.

Töpfer: Das ist nur Gelabere von diesen Leuten, nur eine Ausrede für eigene Untätigkeit und Feigheit. Wenn die tatsächlich irgendwas tun wollen würden, dann würden sie auch irgend ein Medium finden.

Jagodczynski: Ich bin gegen jede Art von Ausschließlichkeit in dieser Frage der Medien.

Töpfer: Wir müssen nur die Perspektive eröffnen, und dann stehen uns mit einem Male eine Menge Medien zur Verfügung, an die wir heute noch gar nicht denken. Das Problem ist doch, das viele das als anstrengend empfinden. Ich rede aber von Dingen, die Spaß machen. Was weiß ich: geile Plakataktionen usw. Irgendwelche lustigen Sachen. Doch um noch mal zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Welche Medien soll der normale Deutsche mit seiner eigenen Ausdrucksweise besetzen? Der Stammtisch war klar: völlig richtig. Das eigentliche Leben im Kiez, am Ort: darum geht es ja. Alles andere ist ja sowieso fremd, spielt aber heute leider Gottes eine Rolle, nämlich als Verhinderer des normalen Kiezlebens. In den Kiez dringt doch andauernd Fremdes und läßt den Kiez nicht zur Ruhe kommen. Und das ist eine Machtfrage, und die Mächtigen bedienen sich der Medien. Und wir sollten nicht nur für meinetwegen ein Kiez-Fernsehprogramm die TV-Stationen erobern, sondern auch, um dem System Sand in die Räder zu streuen.

Tambach: Wenn das – aufwandsmäßig und auch finanziell – zu machen ist: ja. Aber was ich für wichtig halte, um von der ganzen Theorie wegzukommen, ist, daß man nur ganz einfach sein Denken und sein Fühlen ins Leben einbringt. Das halte ich für viel wichtiger als irgendeine Eroberung der Medien.

Töpfer: Also nur unsere Welt an Stelle der alten setzen, und die alte ignorieren.

Jagodczynski: Wofür ich aber überhaupt kein Verständnis hätte, wäre dieses Gelaber der Rechten von früher, von wegen Medien, und das ganze Gejammer, daß wir keine Medien hätten usw. Wenn wir auf der einen Seite nicht durchkommen, versuchen wir’s woanders: Es gibt immer irgendwo ein paar Löcher. Für mich ist es aber viel wichtiger, daß wir die Stammtische, die Arbeitspausen usw. als unsere Medien betrachten.

Töpfer: Das sind ja auch die natürlichen Medien; das ist die wahre Kommunikation, nämlich die zwischenmenschliche, erlebte, sinnliche.

Jagodczynski: Ja.

Tambach: Genau.

Töpfer: Um die geht es ja im Prinzip nur. Die Massenmedien sind ja bloß sekundär. Und es gibt sie nun halt einmal. Wir kucken alle fern, und warum sollen wir nicht weiter fernsehen? Die Frage ist doch bloß der ganze Schrott auf den 30 Programmen.

Jagodczynski: Wie du das alles sagst, ist das alles so administrativ, so vorgeblich. Man muß vielmehr unbewußt vorgehen...

Töpfer: ... spontan...

Jagodczynski: ... das Bewußtsein beeinflussend agieren, kraft unserer jungen Generation, die wir ja sind. Und das alles mit der Rücksichtslosigkeit einer jungen Generation, mit jugendlichem Feuer. Wir können doch damit Sachen durchdrücken, zu denen z.B. Oberlercher und Mahler gar nicht mehr fähig sind. Auch wenn die das gar nicht wahrhaben wollen: Die sind doch in diese bürgerliche Welt der BRD noch viel zu sehr eingebunden. Und wir nehmen ja viel weniger Rücksicht auf diese ganze Bürgerlichkeit.

Tambach: Indem man so viel theoretisiert, erzielt man keine Wirkung. Weil: die Wirkung erzielst du nur im Leben. Und so wie ich lebe, ohne daß ich das tausendfach in Debatten kleiden muß, ohne daß tausend Grundsatzreferate niederschreiben muß, stelle ich automatisch eine Wirkung dar. Dann bin ich eine Wahrheit – unter vielen –, und Wahrheit heißt nichts anderes als Wirklichkeit. Indem ich einfach so lebe, wie ich bin, bin ich schon eine Wirkung und leiste schon Widerstand gegen Dinge, die mir nicht gefallen.

Töpfer: Ohne sie leisten zu wollen.

Tambach: Ja, zum Beispiel.

Jagodczynski: Ohne daß sich das originär politisch äußert.

Töpfer: Sowieso nicht.

Tambach: Und deswegen brauch ich auch nicht das zu tun, was immer diese intellektuelle Schicht macht, die in endlosen Debatten rauszukriegen versuchen, was wir machen können, wie wir’s machen können, wie können wir die Leute erreichen, mit welchen Mitteln können wir die Leute erreichen.

Jagodczynski: Das ist doch alles intellektuelle Selbstbefriedigung.

Tambach: Das ist so was von überflüssig und auch lebensfremd. Weil: Ein normaler Mensch, der lebt, und indem er lebt, hat er auch seine Wirkung, und hat seine Dinge, die er rüberbringt, egal, in welcher Form er die rüberbringt. Viele Leute, die sich an ein Dogma klammern, die... – im Prinzip leben sie ja gar nicht, diese Leute. Ich bin der Meinung, daß Dogmatiker in einer Scheinwelt leben und sehen die Dinge nur aus einer Sicht. Sie brauchen ihr Dogma aus verschiedenen Gründen, wahrscheinlich auch krankheitsbedingt. Sie brauchen einen Halt. Um so undogmatischer ich bin, um so unbefangener kann ich mit anderen Leuten umgehen, um so offener bin ich anderen Leuten gegenüber und um so mehr bekomme ich von den ganzen Wirklichkeiten mit, also nicht nur von einer Wirklichkeit, sondern von dieser ganzen Lebensbreite. Und kann auch mal Dinge sehen, die mir vorher verschlossen waren, weil ich eben immer nur geradeaus gekuckt hab. Aber um so undogmatischer, um so unbefangener ich bin, um so mehr krieg ich mit: Moment mal! Man kann das doch auch mal aus dieser Perspektive sehen. Eigentlich hat dieser Andere gar nicht mal so unrecht! Deswegen ist dieses ganze Theoretisieren, dieses ganze Intellektualisieren, oft nichts anderes als das Widergeben von einem Dogma. Im Prinzip hat das mit dem Leben nichts zu tun. Und wir wollen ja leben. Nicht umsonst sagt man ja: Wir haben eine Lebensanschauung. Gut, es gibt Leute, die sagen: Wir haben eine Weltanschauung. Aber ich würde diesen Begriff heute gar nicht mehr verwenden, weil: Weltanschauung ist einfach nur Theoriescheiße: Ich lese jetzt vier oder fünf Bücher von mir aus in einem Monat, und dann bilde ich mir daraus irgendeine Meinung, aber letztendlich laufen doch die Dinge, die uns wirklich bewegen, im Leben ab, im stinknormalen Leben, und da brauche ich auch keine Bücher mehr zu lesen. Und deshalb bin ich von diesem Begriff Weltanschauung weggekommen und bin jetzt bei dem Begriff... – naja, nicht Begriff, sagen wir dem lebendigen Begriff – Lebensanschauung, oder einfach nur Leben. Weil Anschauung ist ja auch schon wieder Theorie.

Töpfer: Ja, man kommt ohne das alles aus. Ich brauche keine Weltanschauung; ich brauche auch keine Lebensanschauung. Ich kuck mir natürlich manchmal was an, aber selten die Welt, und auch selten das Leben, obwohl man ja auch manchmal darüber nachdenkt. Wenn das dann Weltanschauung ist: meinetwegen. Aber ich kenne niemanden, der von Weltanschauung faselt und dabei nicht seinen ideologischen Kram abläßt. Und das ist es auch, was mich ein bißchen gegen Mahler steuern läßt: Ich bin jemand, der keine Anschauung braucht. Wenn andere eine brauchen: gut. Das stört mich nicht. Aber sie dürfen mit ihrer Anschauung, mit dem, was sie denken, was sie für richtig halten, niemand anderem etwas vorschreiben. Ich mache es nicht, und ich erwarte es von anderen, daß sie es nicht mit mir machen. Und sie machen es in gewisser Weise schon mit mir, nämlich dort, wo ihre Anschauung zur materiellen Gewalt wird, sprich: wo sie Politik wird, wo sie Macht wird, d.h. am Ende konkret, wo Kinder z.B. Sachen lernen müssen, die nichts mit dem Leben zu tun haben, wie sie heute andauernd Holokaust und den ganzen politisch korrekten Scheiß lernen müssen. Und so müssen sie eines Tages Hegel’sche Rechtsphilosophie lernen. Und da sträubt sich doch in mir schon heute etwas arg dagegen. Und Mahler und Oberlercher schließen uns ja heute schon aus, indem sie irgendwelche Eide und Schwüre von uns abverlangen, ohne die wir nicht an der Gestaltung des Landes teilnehmen dürfen. D.h. sie schließen uns heute noch nicht aus, aber laß sie doch mal an die Macht kommen: Dann können sie uns ausschließen und uns ins Umerziehungslager schicken! So was kann ich nicht zulassen. So wie man uns heute mit Holokaust vollscheißt, so habe ich kein Bock, morgen mit Hegel vollgeschissen zu werden.

Tambach: Zumal du ja siehst, daß es ins genaue Gegenteil umschlägt.

Töpfer: Gegenteil wovon?

Tambach: Naja, Thema Holokaust: Die Leute wenden sich doch angewidert ab davon.

Töpfer: Na um so besser.

Tambach: Das wird doch alles übertrieben. Und indem es übertrieben wird, wird genau das Gegenteil erreicht von dem, was die Leute eigentlich wollen.

Töpfer: Dann wär es ja ganz in meinem Sinne.

Tambach: Es mag eine gewisse Schicht geben, wo das wirkt, aber ich glaube, dem stinknormalen Menschen, dem brauchst du nicht mit Holokaust zu kommen.

Jagodczynski: Dem ist es doch völlig wurst, ob da 300 000 durch Seuchen umgekommen, oder ob 6 Millionen durch die Gaskammer geschickt worden sind.

Töpfer: Das Problem für mich ist bloß, daß keiner dieser Menschen, denen das alles ja so egal ist, dagegen aufsteht; daß sie nicht sagen: Ihr bringt meinen Kindern nicht so’ne Scheiße bei. Ihr schleppt meine Kinder nicht in Schindlers Liste rein, so wie sie es mit uns in der DDR gemacht haben: diese ganze ideologische Abrichtung, die wir ja in der BRD ganz genau so haben. Na gut, hier ist es weniger ideologisch, mehr gefühlsschleimig. Und die Menschen sind nicht mutig genug, nein zu sagen.

Jagodczynski: Aber diese ganze Unterwürfigkeit, diese ganzen Tribute, die auf diesem Holokaust aufgebaut werden, die geschehen ja dennoch nicht – trotz dieser ganzen Umerziehung – im Einverständnis mit dem Deutschen oder der Mehrheit der Bevölkerung. Es ist immer nur eine gewisse Schicht, nämlich diese Satrapen und Vasallen, die von amerikanischem Gnaden hier unser Volk verraten, die meint, sich moralisch für irgend etwas rechtfertigen zu können, indem sie dem Holokaust-Kult frönen. Aber ich glaube nicht, daß die Deutschen an sich, also vom Innersten her, auch so sehen.

Töpfer: Selbstverständlich nicht! Das Problem ist bloß: Warum wehren sie sich nicht dagegen und lassen Dinge geschehen, die ihren Interessen zuwiderlaufen? Warum lassen sie sich ständig und überall davon vollnölen und erpressen?

Tambach: Ich glaube nicht so richtig an das, was du sagst. Ich bin der Meinung, daß jemand, der von einer Sache nicht betroffen ist, der wird sich auch dagegen nicht auflehnen. Und da es den meisten Leuten eigentlich scheißegal ist, was da gepredigt wird – und ich denke, daß es auch den meisten Schülern egal ist, die sitzen dann im Unterricht und halten ihre Schnauze – ...

Töpfer: ... denen kann das ja alles egal sein: Trotzdem ist es Terror, mit irgend etwas konfrontiert zu werden, mit dem sie nichts zu tun haben! Und es wundert mich doch, daß denen komischerweise dieser Terror offenbar nicht egal ist. Warum sagen die Eltern nicht?: Laßt unsere Kinder in Ruhe mit der Scheiße!

Jagodczynski: Das geht rin und raus.

Tambach: Weil sie selber davon nicht betroffen sind. Die sagen sich: Wir lassen das über uns ergehen. Oder vielleicht auch, weil sie Angst haben. Ich glaube nicht, daß die Leute sich irgendwie einen Kopf darum machen, warum sie gegen diesen Unterrichtsstoff sein sollen. Weil: Es geht sie nichts an.

Töpfer: Aber wenn es sie langweilt und anödet, dann geht es sie schon was an. Ich erwarte aber von meinen Volksgenossen, daß sie dagegen aufstehen. Aber ich sehe, da kann man nix machen...

Jagodczynski: Ein Beispiel: Kommt ein Historiker, der sagt, der 30jährige Krieg hat gar keine 30 Jahre gedauert, sondern 40 Jahre. Warum laßt ihr euch denn so einen Mist erzählen?! Verstehst du, was ich damit sagen will?

Töpfer: Peter, das ist doch überhaupt nicht das Problem! Darum geht es doch jetzt gar nicht. Mir ist die Geschichte doch völlig wurst! Mir sind aber die Kriege nicht wurst, und ich nenne das schon Krieg, was hier mit uns gemacht wird. Mir geht es nicht um irgendeinen Revisionismus. Es ist mir Schnuppe, ob dies oder jenes passiert ist oder ob dies oder jenes in den Geschichtsbüchern steht. D.h. es ist mir nicht schnuppe, ob so und so viele Leute dort und dort umgekommen sind, das finde ich natürlich Scheiße. Ich bin überhaupt gegen Geschichtsbücher und daß man damit unsere Kinder vollnölt. Na klar gibt es eine authentische Geschichte, ich meine jetzt nicht die Vergangenheit, die ist vorbei, ich meine damit eine Art der Geschichtserzählung, wenn z.B. Opa aus seinem Leben erzählt. Wenn das Geschichte ist, bin ich nicht dagegen. Vielleicht sollte ich sagen: Ich bin für eine echte, authentische Geschichtserzählung und absolut gegen jede Art ideologisch gefärbte Geschichte. Aber ich bezweifle, daß es einen staatlichen Schulplan geben kann, wo diese Art Geschichte als Unterricht stattfinden kann. Authentische Geschichte tut sich ganz spontan, fast nur im Familiären, ist still und gefühlvoll, voller Teilnahme. Das hat doch mit dieser ganzen verfickten sog. Geschichtsschreibung überhaupt nichts zu tun.

Jagodczynski: Solange die Deutschen nicht jeden Tag aufgrund dieser Holokaust-Geschichte frühmorgens zum nächstgelegenen KZ fahren und da Blumengebinde abwerfen oder irgendwelche Gedenkstätten harken müssen, ist es denen doch egal! Und diese Summen, diese Reparationen, das sind für die nur noch abstrakte Summen aus dem Staatshaushalt, mit denen die selber gar nichts mehr zu tun haben. Die werden doch nicht persönlich gezwungen, irgendwelche persönliche Sühnehandlungen zu vollziehen. Auf den Knien rumrutschen tun doch nur Kohl oder Schröder oder Brand!: Leute, die sie eh verachten. Die bitten um Vergebung für angebliche oder vorgebliche Sachen, die da passiert sind.

Töpfer: Nein, die Leute verdrängen das einfach. Denn natürlich bezahlen die Leute, und nicht Herr Brand und nicht Herr Kohl, und sie wissen es auch ganz genau. Wobei ich das mit dem Bezahlen gar nicht mal so verkehrt finde. Ich weiß nicht, ob ich hinter Geld her wäre von Leuten, die mich drangsaliert haben, aber mag sein, daß sich ein Zwangsarbeiter jetzt darum kümmert; kann ich schlecht beurteilen. Darum geht es mir hier gar nicht. Mir geht es um die geistige Verdreckung, um diese ganze Falschheit und Verlogenheit, die sich das deutsche Volk, d.h. mein Nachbar, mein Kollege, mein Kumpel, bieten läßt.

Jagodczynski: Weil sie immer noch ihr bürgerliches Leben führen können.

Tambach: Ja, einerseits das, und dann auch, weil es die Leute wirklich nichts angeht.

Töpfer: Aber was mich nichts angeht, das muß ich doch um so einfacher, um so schneller, um so radikaler von mir abschütteln!

Jagodczynski: Es ist für die Leute abstrakt. Es greift nicht direkt in ihr Leben, in ihr Sein ein. Ich kann mich doch nur gegen etwas empören, wovon ich selber direkt betroffen bin. Z.B. diese ganze Kampagne z.Z. gegen Hunde, dieser Krieg gegen die Kampfhunde. Warum? – Weil ich selber einen Hund habe. Deshalb kann ich damit selber was anfangen. Verstehst du? Wenn man jetzt sagen würde: Paß mal auf: Du kriegst am Monatsende jetzt 300 Mark weniger, weil wir die vom Gehalt abziehen müssen, du weißt ja, wegen Auschwitz und so, dann würden die Leute auch schon wieder anders reagieren.

Töpfer: Wir sind ja von der Indoktrinierung ausgegangen, von dem Nerven, von der intellektuellen Scheiße usw. Ich kann ja nur von dieser Scheiße frei sein, wenn die Leute um mich herum auch frei sind. Und deshalb bin ich der Meinung, daß man das nicht einfach so hinnehmen darf, auch wenn das vermeintlich alles schön weit weg ist und mich angeblich nichts angeht.

Jagodczynski: Du bist doch auch aus der DDR: Da wurde man auch von der ersten Unterrichtsstunde an indoktriniert. Vielleicht ein bißchen plumper als hier im Westen. Aber was ist denn davon hängen geblieben letztendlich?

Töpfer: Ich kann dir sagen, was davon hängengeblieben ist: 30 Jahre Langeweile und Öde. Wenn ich an die Kommunisten zurückdenke, wird mir schlecht. Gottseidank denk ich nicht oft daran zurück; die kommen mir jetzt eher niedlich vor. Ich sehe nicht ein, mich von irgend jemandem – ob das nun heute bestimmte Juden sind oder morgen Herr Mahler – anöden zu lassen. Das dürfen sie nicht! Aber ich alleine bin zu schwach, um gegen diese Öde anzukämpfen. Ich erwarte von meinen Volksgenossen, daß sie auch das Maul aufmachen und sagen: Ich will auch nicht angeödet werden.

Tambach: Ich glaube, die Leute fühlen sich gar nicht angeödet. Die haben überhaupt keinen Bezug dazu.

Töpfer: Na gut, eine gewisse Öde scheint immer dazugehören zu müssen...

Tambach: Die machen sich überhaupt keine Gedanken darüber, die empfinden ganz anders. Wenn man sich bewußt mit diesen Dingen auseinandersetzt, dann empfindet man das natürlich als öde. Aber der Stino empfindet überhaupt nicht so. Dem ist das wirklich scheißegal. Der wehrt sich auch nicht dagegen, wenn er ab und zu Dinge zu hören kriegt, die ihm egal sind.

Töpfer: Diese Ödnis darf also einen gewissen Raum in seinem Leben einnehmen?

Tambach: Absolut. Das hat man doch auch in der DDR gemerkt. Die meisten Leute haben mit dem System nicht sympathisiert. Jeder hat seine Arbeit gemacht, wie und wo auch immer. Man hat die kollektiven Sitzungen, Parteiversammlungen usw. über sich ergehen lassen. Man hat sich letztendlich nicht dagegen gewehrt. Und warum? Weil die Leute vielleicht gesagt haben: Ach Scheiße, das gehört zum Leben dazu. Ob ich nun meinen Mund aufmache oder nicht: Ich kann mich sowieso nicht dagegen wehren.

Töpfer: Könnt ihr euch damit zufrieden geben?

Jagodczynski: Doch.

Tambach: Nein, eigentlich nicht. Vielleicht habe ich Verständnis dafür.

Töpfer: Ich habe auch Verständnis dafür.

Tambach: Ich selber würde mich mit Sicherheit anders verhalten.

Jagodczynski: Das ist sehr subjektiv, was du sagst, mit Indoktrinierung, mit irgendwelchem Dreck. Dann könntest du ja auch sagen: Was müssen die irgendwelche Mathe-Formeln lernen an der Schule? Das ist doch alles Schrott, das brauchen wir doch gar nicht!

Töpfer: Sage ich ja auch.

Jagodczynski: Dann darfst du sie nicht auf die Schule schicken!...

Töpfer: ... muß ich aber: In Deutschland herrscht Schulzwang...

Jagodczynski: ... und mußt sie Tomaten an die Wände schmeißen lassen.

Töpfer: Nein, ich bin ja gar nicht dagegen, daß die Kinder rechnen und schreiben lernen. Das ist ja alles in Ordnung. Sie sollen nur nicht angeödet werden. Und ihr wißt genau was ich damit meine: Schreiben und rechnen macht nämlich Spaß, das ist ein schöpferischer Vorgang.

Jagodczynski: Ich hatte Mitschüler, die Rechnen als öde empfanden. Ich nicht.

Töpfer: Vielleicht weil es zu kompliziert, zu abstrakt war oder falsch vermittelt wurde. Höhere Mathematik ist ja auch tatsächlich öde. So was sollte Mathestudenten überlassen werden, die so was lernen wollen.

Jagodczynski: War ja nur ein Beispiel.

Tambach: Aber in deinem Beispiel von vorhin, da wäre es doch klar, daß wir alle drei in die Schule zum Lehrer gehen und ihm sagen würden: Können Sie mal die ganze Problematik nicht aus einer anderen Sichtweise sehen?

Töpfer: Vergiß es.

Tambach: Du kannst ihm nicht sagen, das darf er nicht lehren. Da würde er dich auslachen; das ist nun mal der Unterrichtsstoff. Aber – und hier kommen wir wieder zur Wirkung zurück – du kannst ihm vielleicht doch einen Denkanstoß geben, ihn einfach mit deiner These konfrontieren. Wie weit er gewisse Dinge aufnimmt oder umsetzt, ist eine andere Frage. Aber man muß dem Lehrer zeigen, daß er mit deinem Kind nicht alles widerstandslos machen kann, was er sonst natürlich widerstandslos macht. Ich glaube, daß jedes Gespräch und jeder Anstoß in dem Menschen etwas auslöst. Damit kann man schon Erfolg haben.

Töpfer: Also auch auf dem Elternabend das Wort ergreifen?

Tambach: Ja, oder sich direkt mit dem Lehrer unterhalten.

Töpfer: Naja, das reicht doch schon mal.

Jagodczynski: Peter, du machst aus Sachen Probleme, die keine Probleme sind. Man muß doch dem Kind deshalb jetzt keine schwere Kindheit bereiten! Wenn man sieht, daß es Sachen ausgesetzt ist, wo es wirklich charakterliche Deformationen davonträgt oder die seinem Charakter wirklich widersprechen: gut. Aber wenn das nun mal Lehrstoff ist, den du vielleicht für öde hältst, aber der dem Kind nun mal auch keinen Schaden zufügt... Wenn du da laufend anrückst und sagst: Das und das ist Scheiße! Was meinst du, was du deinem Kind damit für einen Gefallen tust?! Und außerdem haben die Kinder ganz einfach auch ihre eigenen Abwehrmechanismen. So wie ich damals: Da wird eben gequatscht, da werden Zettel geschrieben, da wird Papier unter der Bank angezündet, da machst du halt mehr Scheiße: Da merkt der Lehrer auch schon, ob es langweilig ist oder ob die Klasse oder ob es Müll ist, wo sie nur noch Scheiße machen. Oder machen kollektives Schwänzen, wie ich es immer initiiert habe. Wir haben vor dem Raum gestanden, und dann sagte einer: Irgendeiner hat gerade gesagt, wir haben Ausfall! Dann sind wir alle abgehauen. Nur so’ne Dinger! Das ist doch ganz klar. Du darfst da gar nicht in Sachen eingreifen, die nur die Kinder angehen. Die entwickeln ihre eigenen Mechanismen, wo sie auch zeigen, ob ihnen was paßt. Und du mußt doch dein Kind nicht von Kindheit an schon zum Querulanten machen! Jetzt kommt Papi schon wieder und regelt das Ding: Das nervt doch und ist peinlich! Wenn man merkt, daß das Kind wirklich einem seelischen, psychischen starken Druck ausgesetzt ist, der nicht vertretbar ist, dann ist es doch klar. Aber man muß doch auch mal die Kirche im Dorfe lassen!

Töpfer: Da ist meine Erfahrung eine ganz andere, das stimmt. Bei uns gab’s sowas nicht, daß man irgendwas dagegen tun konnte. Bei uns war Faschismus angesagt, und da gab es auch keine Leute, die so rebellisch gewesen wären wie ich.

Jagodczynski: In der Schulbildung wird es immer Sachen geben, die der eine so, und der andere so sieht. Natürlich finde ich das heute mit dem Geschichtsunterricht nicht gut, und ich will auch nichts mit Hegel usw. zu tun haben, aber man muß den Kindern ja gewisse Grundwerte beibringen, wie auch immer. Du siehst das viel zu sehr durch die rosarote Brille von deinem Ideal, Traumbild, das vielleicht in der Retorte existiert, aber im pragmatischen Alltatg nicht umsetzbar ist.

Töpfer: Ich bin mir völlig bewußt, daß ich als querulantischer Vater meinem Kind noch viel mehr schaden würde. Es geht mir hier um eine viel prinzipiellere Sache. Wenn ich Rebellen wie dich in meiner Klasse gehabt hätte und auch andere Eltern oder Lehrer oder – wie in meinem Falle – Trainer gehabt hätte, wenn das ganze System nicht so unerhört dicht gewesen wäre, dann wäre es geil gewesen und ich würde heute ganz anders denken. Aber trotzdem noch mal die prinzipielle Frage: Muß es wirklich Ödnis geben? Warum muß es Rebellentum geben, auch wenn das mir in meinem Falle geholfen hätte? Es könnte doch alles viel schöner, freudvoller und heller ablaufen in der Schule.

Jagodczynski: Es gibt immer Öde.

Töpfer: Nein, es muß nicht immer Öde geben.

Jagodczynski: Es wird auch im Reich Öde geben.

Töpfer: Deswegen will ich ja auch mit diesem Reich nichts zu tun haben.

Jagodczynski: Es wird auch in deinem anarchistischen Paradies, oder was auch immer dir vorschwebt, Öde geben.

Töpfer: Wenn die Leute sich selber anöden, dann ist das ihr Problem, aber ich laß es nicht zu, daß man mich anödet. Daß man mich zwingt, mich anöden zu lassen.

Jagodczynski: Na gut, dann ist das aber jetzt die Formulierung einer sehr individuellen, persönlichen, subjektiven Haltung, die aber in keiner Weise politisch ist...

Töpfer: ... hat ja auch keiner behauptet...

Jagodczynski: ... wie du gewisse Dinge anzupacken gedenkst, aber die keinerlei Breitenwirkung haben kann, also auch keine Handlungsanleitung für andere sein kann.

Töpfer: So etwas ist mir auch völlig fremd. Ich will mal jetzt ein Fazit ziehen: Du hast gegen eine gewisse Öde nichts einzuwenden?

Jagodczynski: Nein, nicht nichts einzuwenden, aber Menschen können durchaus auch einen gewissen Gefallen haben an Öde. Ja, so ist das! “Idylle”, wenn man es mal poetisch sagen will. Dann ist das “idyllisch”, was du vielleicht als öde empfindest.

Tambach: Ich finde, wenn sich Peter gegen die Öde wehrt, ist das völlig korrekt und legitim. Andererseits darf er dann nicht den Fehler machen und gleichzeitig für andere denken und denken, daß die es auch als Öde empfinden. Ich denke, die Leute sind so unterschiedlich, und viele Leute sind auch so einfach gestrickt, daß die das niemals als öde empfinden würden. Denen ist es völlig scheißegal, was das abläuft im Unterricht oder sonstwo.

Töpfer: Sie fühlen die Öde nicht.

Tambach: Ja.

Töpfer: Ich kann mich daran erinnern: DDR, Kommunismus usw.: Das war so öde! Aber wie du sagst: Die Leute schalten ab, die haben – wie sagtest du vorhin? – ihre Abwehrmechanismen. Aber ich seh das gar nicht ein, warum man überhaupt erst Abwehrmechanismen entwickeln muß.

Tambach: Das ist aber alles mehr dein eigenes Ding. Das darfst du jetzt nicht vergessen, daß die Mehrheit des Volkes oder der Menschen – wie auch immer – deine Haltung nicht akzeptiert, was du natürlich wiederum akzeptieren mußt. Du kannst von den Leuten nicht erwarten, daß die gegen eine angebliche Öde kämpfen, die sie gar nicht als Öde empfinden. Weißt du, was ich meine?

Töpfer: Das ist richtig.

Tambach: Es ist dein Ding!

Jagodczynski: Willst du jetzt die Anarchie auf Teufel komm raus und das Rebellentum kultivieren, oder was? Der Mensch ist doch nicht ein permanenter Rebell, der nun überall Rabatz macht. Natürlich muß man auch immer Sachen ertragen, die einem nicht passen. Der Mensch wird doch generell nur dann zum Rebell – oder in der Mehrheit zum Rebell –, wenn die Zustände absolut unerträglich werden.

Töpfer: Ich hab doch gerade gesagt, daß ich gar nicht will, daß der Mensch Rebell ist. Der Mensch ist nicht dazu da, Rebell zu sein; er muß leider Rebell werden. Na klar habt ihr recht, wenn ihr sagt: Es gibt verschiedene Vorstellungen von Öde. Aber ich behaupte ja, daß die Masse in der DDR angeödet war. Gut, der eine weniger als der andere, weil der gar nicht so sehr mit dem System zu tun hatte. Aber das System war doch omnipräsent. Das kann mir doch keiner erzählen! Und ich hatte das Nachsehen, daß niemand mit mir mitgezogen ist. Eure Erfahrung war ein andere, klar. Ihr hattet den BFC oder sonstwas.

Tambach: Mein Erleben in der DDR war es, daß die Leute sich solche Freiräume geschaffen haben, daß sie über diese Öde hinweggesehen haben irgendwo. Ich glaube, es gibt eine gewisse Toleranzgrenze, und wenn diese Toleranzgrenze überschritten, dann werden die Leute rebellisch. Inwieweit diese Toleranzgrenze etwas mit dieser Wende ’89 zu tun hatte, kann ich nicht beurteilen. Bis in den Sommer ’89 war eben diese Toleranzgrenze nicht überschritten, und die Leute haben sich ihre Freiräume geschaffen. Ich weiß es doch aus eigenem Erleben: Dann bist du eben in die Disko gegangen, hast dich voll gesoffen, bist zum Fußball gefahren: Man hat sich die Freiräume geschafft, daß einem die Öde nicht bezwingen konnte. Die meisten haben zwar gemeckert: Standardspruch: Scheiß-Osten!...

Jagodczynski: ... die Leute haben sich Parallelwelten geschaffen, wohin sie flüchten können.

Töpfer: Ich meine, daß diese ganze Wendebewegung nur durch die ersten Rebellen – also zuerst durch die Ausreiser und dann die, die “wir bleiben hier!” gerufen haben – in Leipzig ermöglicht wurde und daß das nichts mit einer Toleranzgrenze zu tun hat. Diese ganzen Massen, die wären noch ewig zuhause geblieben und hätten ihre Ostbananen gefressen. Wenn ich das sehe: 4. November, Alexanderplatz, da krieg ich doch einen Lachkrampf! Da war doch längst schon alles gelaufen! Da kamen sie rausgekrochen aus ihren Löchern, die ganze Masse der Schafe und hielt ihr mutiges Plakat hoch. Einfach zum Kotzen. Warum muß ich mir Parallelwelten erschaffen? Ich bräuchte es doch gar nicht, wenn ich in einer Welt leben würde, die mich nicht anöden würde.

Tambach: Die Leute brauchen nicht darüber nachzudenken, ob sie gleich glücklich leben könnten oder nicht. Sie schaffen sich automatisch eine Scheinwelt, eine andere Welt.

Jagodczynski: Ich kann dir deine Frage ganz kurz beantworten: Wenn die Menschen sich selber schöpferisch ausdrücken könnten, ausleben können, dann würden diese Ödnis und dieses Fluchtverhalten und diese Parallelwelten nicht mehr sein. Und das ist eine Frage der Kulturepoche, des Geistes oder des Bewußtseins, das einer Epoche zugrunde liegt. Und das ist ein Problem, wo wir auf die Moderne an sich zurückkommen. Der Mensch hat heute kaum noch Felder, wo er sich wirklich schöpferisch ausleben kann. Was ihn erfüllt. Und das ist das Problem. Es ist ja diese innere Öde, es geht von der inneren, von der schöpferischen Öde aus, die dann zu einer existentiellen Öde wird, wie du es sagst. Daß man das als Ödnis empfindet, das sind dann immer bestimmte Erkenntnisstufen von Leuten. Und wir sind auf einer gewissen höheren Erkenntnsistufe, weil wir uns eben länger mit der Thematik auseinandergesetzt haben, oder auch durch gewisse Ereignisse, wo man eben auch gezwungen war, über gewisse Sachen nachzudenken in seinem persönlichen Leben.

Tambach: Noch mal zurück zur Wirkungsweise: Wenn ich – gerade in der DDR oder heute in der BRD – von dieser Scheinwelt rede, ist das insofern auch wieder Blödsinn oder falsch, weil: Indem Leute sich halt in einem anderen Rahmen bewegen und dieses offizielle Spiel nicht mitspielen, bringen sie ja schon wieder ihr Leben zur Wirkung, d.h. ihr Leben wird Wirklichkeit, und ihr Leben ist eben dann der Widerstand zu den jeweils herrschenden Zuständen. Und insofern ist doch eigentlich dann das andere Leben auch schon wieder da! Und z.B. in der DDR, wo man dieses angebliche sozialistische Ideal hatte: Das war doch bloß noch Fassade. Das wirkliche Leben hat sich doch nicht bei den Menschen in irgendwelchen sozialistischen Theorien oder Praktiken abgespielt, sondern die haben einfach ihr Leben neben dem System gelebt. Und so führen die Menschen heute in der BRD auch ihr Leben neben dem System.

Töpfer: Ja, aber das ist eine Flucht und eine Kapitulation vor den lebensfeindlichen Zuständen.

Tambach: Da bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Es ist doch nicht unbedingt eine Flucht, wenn ich einfach mein Leben lebe, ohne Rücksicht auf das drumherum.

Töpfer: Es ist beides. Sie machen real ihr Ding – und das ist gut so –, aber es ist auch eine Flucht. Wir alle sind doch Opfer von Zuständen, die wir nicht wollen: Umweltzerstörung... – was auch immer. Wir nehmen es aber alle hin.

Tambach: Aber viele Leute nehmen es doch nicht hin. Viele Leute leben dagegen. Ohne auch nur im geringsten etwa zu protestieren. Bevor sie sich einen Kopf machen, von wegen: Ja, wie kann ich jetzt nur das System abschaffen, wie kann ich politisch aktiv sein usw.? – Sie lassen die ganze Theorie-Scheiße weg, leben dagegen...

Töpfer: ... was ja viel wichtiger ist, da bin ich mit dir einverstanden...

Tambach: ... was ja schon ganz automatisch ein Widerstand ist. Sie brauchen sich über den Theorie-Müll gar keine Gedanken mehr machen.

Töpfer: Ja, ist klar.

Tambach: Eine andere Frage ist natürlich, inwieweit der Staat mit seinem Gewaltmonopol und seinen anderen Mitteln verhindert, daß sich die Dinge so verändern, wie wir es gern möchten. Da sind viele Dinge für uns einfach nicht machbar.

Töpfer: Eben.

Tambach: Und gerade weil die Dinge halt nicht machbar sind, schert man sich einfach nicht mehr darum.

Töpfer: Und das ist Flucht. Das mache ich den Leuten zum Vorwurf. Beispiel: In der Schweiz gibt es eine Gruppe, ein Verein [VgT], der gegen die Schächtung von Tieren kämpft. Die Schächtung ist eine furchtbare Sache, bei der die Tiere schlimm leiden müssen. Jetzt werden diese Leute als Antisemiten beschimpft, verfolgt, mit Prozessen überzogen, mit physischer Gewalt angegriffen usw. Nur weil sie etwas absolut ehrenhaftes und ganz anständiges tun. Und da ist natürlich die Frage, ob das Leben selbst zu leben da ausreicht. Ich bin mir nicht sicher; vielleicht hast du recht. Ich glaube aber, daß wir aber diesen zweiten Aspekt, den du genannt hast, zur Kenntins nehmen und daraus die ehrliche Konsequenz ziehen müssen. Es geht nun mal nicht anders. Wenn wir Dinge beklagen, müssen wir auch möglicherweise unbequeme Dinge tun, um sie abzuschaffen. Ich bin aber der Meinung, daß diese Dinge dann doch nicht so unbequem sein müssen. Ich sage nur: Spaßguerilla.

Jagodczynski: Ich will noch mal auf die Flucht in Scheinwelten zurückkommen: Diese alternativen Subkulturen, die immer wieder hochgekommen sind – also Punk, Skins, Techno –, das waren doch immer wieder der gleiche Mechanismus: alternativ im Untergrund entstanden, und dann wurden sie irgendwann kommerzialisiert, vom Kapitalismus aufgesogen – kuck dir doch mal an, wie jetzt schon Diepgen und Junge Union bei dieser angeblichen Liebesparade mit rumhampeln. Aber diese Musik stößt mich sowieso schon ab. Und in dem Sinne braucht das System auch diese alternativen Subkulturen, damit die Menschen oder besser die Jungen sich wochenendweise oder freizeitweise in diese Scheinwelt flüchtet, aber trotzdem immer wieder artig in die alte Welt zurückkehrt, anstatt sich wirklich existentiell diesem System zu entziehen, wirklich zu versuchen, in kleinsten Kreisen existentielle Autarkien zu errichten, womit man sich wirklich und 100-%ig entzieht. Und das ist das wirkliche Problem!

Töpfer: Das machen wir. Das ziehen wir jetzt praktisch durch, die Autarkie.

Jagodczynski: Es gibt doch schon überall Enklaven. Und zwar von den Linken! Diese Ökobauernhöfe, diese Kommunen und das alles, besetzte Häuser. Auch wenn das schmudd‘lig wirkt: Die haben es eher erkannt – auch wenn das unbewußt war oder aus einem anderen Impuls heraus war –, aber das sind kleine Inseln existentieller Autarkie. Die haben angefangen damit.

Tambach: Die haben gar nichts erkannt – die haben es einfach nur getan! Einfach so, oder weil sie Bock dazu hatten. Aber ich glaube, daß jetzt auf der rechten Seite genau so diese Dinge existieren, die wir vielleicht immer unterschätzen. Der Rechtsextremismus-Experte Wagner warnt jetzt schon vor völkischen Bewegungen...

Jagodczynski: ... das ist doch dieser Stasi-Typ...

Tambach: ... der auch ganz schön dick geworden ist, was auch davon zeugt, daß...

Jagodczynski: ... er ein Wurstfresser ist!...

Tambach: ... der warnt jedenfalls vor dieser völkischen Gegenbewegung. Und er sagt, momentan stellt er in den fünf neuen Bundesländern fest, daß dieser subkulturelle Protest der Jugend übergreift auf eine breite Bevölkerung. Das heißt also – was wir selber gar nicht richtig wahrhaben wollen –: Dieses Leben außerhalb der Systemverordnung, das findet ja schon statt. Nur daß wir das in unserem Umfeld, in den Großstädten, nicht so erkennen. Aber in der Provinz, da weht ein anderer Wind.

Töpfer: Ich krieg das schon sehr gut mit überall. Es muß aber eine Vernetzung stattfinden.

Jagodczynski: Die Entwicklung in Mitteldeutschland ist eine sehr problematische Sache. Einerseits sind es junge Menschen, die spüren, daß sie von diesem System abgelehnt werden, nicht gebraucht werden, geradezu gehaßt werden und kaltgestellt werden; andererseits ist das Zusammenfinden in dieser – wie es genannt wird – rechten Szene mit diesem Skinhead-Zeug und mit dieser Musik für mich eine Art von Verpöbelung. Ich sage das ganz ehrlich. Das sind zum Teil absolut asoziale Verhältnisse. Man darf das nicht beschönigen. Was da an Musik rüberkommt, so was will ich nicht hören. Das ist Haß, Mord und Totschlag. Der innerste, der unbewußte Impuls ist natürlich in Ordnung. Was das Problem ist: Mahler und Oberlercher werden mit dem, was sie jetzt hervorbringen, nie eine Kommunikationsebene finden, um die anzusprechen. Vielleicht für eine Wahl mal, aber nicht, um die wirklich in ihrem Bewußtsein zu verändern, um die wirklich zum bewußten Anderssein von der Lebenseinstellung her zu bringen...

Tambach: Das klingt mir schon wieder zu theoretisch, weil: Warum soll ich jetzt irgend jemand zu einem Bewußtsein führen? Der Mensch ist so, wie er ist. Diese Leute zu erziehen, halte ich für völlig überflüssig.

Töpfer: Bewußtsein kann sich nur aus eigener Erfahrung verändern; alles andere ist Pseudobewußtsein.

Tambach: Den einfachen Jugendlichen oder auch dem ganz normalen Menschen in Mitteldeutschland interessiert es doch einen Scheiß, ob es einen Mahler gibt oder einen Oberlercher. Deren Leben läuft doch ganz woanders ab. Gut, es kann natürlich sein, daß sich das demnächst verschärfen wird und daß sie dann nach Führern rufen werden. Aber im Moment läuft doch der Widerstand ganz automatisch und von allein.

Töpfer: Wir müssen diese Entwicklung hin zu Autonomie, wie du sie beschreibst, verstärken und unterstützen. Wenn sich jetzt nicht diese autonomen, autarken, selbstbewußten und freien Zonen bilden, dann wird es morgen zu spät sein, dann werden sie nach den autoritären Führern rufen. Dann werden die Herren Mahler und Oberlercher da sein und uns knechten.

Jagodczynski: Ja, diese Bewegung ist zwar vom Impuls her richtig, aber das drückt sich noch in einer relativ diffusen Protesthaltung bei diesen jungen Leuten aus. Indem sie z.B. Jacken anhaben einer Luftwaffe, die Dresden in Schutt & Asche gebombt hat, das ist doch alles absolut konfus. Auch wenn sie bei EmmCee Donald fressen gehen.

Tambach: Das ist mir zu moralisch!

Jagodczynski: Bei denen muß die Erkenntnis kommen, daß man nicht nur gegen alles sein kann und alles verprügelt, was einem nicht paßt oder ab & zu mal mit ’ner Fahne durch’s Dorf rennt bei irgend einer NPD-Demo, sondern daß sich das dann wirklich in einer Haltung auslebt, die einen wirklich fürs ganze Leben prägt.

Töpfer: Die Leute müssen sich selbst entwickeln. Wie könnte denn dein Einfluß auf die Dorfjugend aussehen?

Jagodczynski: Ja, das ist ein Problem. Wir müssen eine Kommunikations- und Argumentationsebene finden oder entwickeln, von der sich die Landjugend angesprochen fühlt. Und das bestimmt nicht in Form einer Politik.

Töpfer: Richtig.

Jagodczynski: Oder der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Wir sollten übrigens noch versuchen, auf Mahler und Oberlercher einzuwirken, aber wir behalten uns für den Fall Maßnahmen vor, daß die absolut uneinsichtig bleiben sollten und – auf deutsch gesagt – durchknallen mit ihrer Sache und sich zu den absoluten Wortführern aufschwingen und eine Sache, die behutsam in zehn, fünfzehn Jahren aufgebaut wurde, mit solchen Sachen mehr oder weniger lächerlich und damit zunichte zu machen.  Ich bin auch noch nicht den Eindruck losgeworden, daß Mahler mit so einem Hintersinn eingetreten ist. Das ist aber meine ganz individuelle Befürchtung. Man stelle sich doch mal die Frage, wie man die systemkritische Opposition, die vom Reichsgedanken durchdrungen ist, am besten entschärft. Da würde ich doch genau diese Variante wählen.

Töpfer: Die Reichs-Idee, die paßt doch genau zu diesen Mentalitäten.

Jagodczynski: Nein, die Reichs-Idee muß sehr behutsam weitergedacht und nicht brachial und rabiat hervorgebracht werden und darf auch nicht mit Lächerlichkeiten durchsetzt werden wie zum Beispiel die Monarchie, was heute in Deutschland undenkbar ist, wenn man diesen degenerierten Adel sieht. Es gibt auch kein Herrschergeschlecht in Deutschland, das in Deutschland eine Monarchie antreten könnte. Und meine Sorge ist, daß diese ganze Sache, die Sander mit dem “nationalen Imperativ” angeleiert hat, leichtfertig diskreditiert wird. Ob das Mahler bewußt macht oder nicht, weiß ich nicht. Aber den Eindruck bin ich leider noch nicht losgeworden.

Töpfer: Ob die Reichsidee diskreditiert wird, soll nicht meine Sorge sein, aber ich halte das nicht für möglich: daß Mahler ein Saboteur ist.

Jagodczynski: Ich halte ihm zugute – weil ich jemand bin, der in jedem Menschen erst mal das Positive sieht –, daß er es unbewußt macht. Ich vermisse immer noch den absolut persönlichen Beitrag von Mahler, wo man sagen würde: Das ist originär seinem Denken entsprungen, das authentisch Mahler’sche. Alles ist ein bißchen aufgesetzt.

Töpfer: Was, denkst du denn, ist das authentisch Mahler’sche?

Jagodczynski: Ich kenne Mahler zu wenig. Aber das, was er hervorgebracht hat, das ist mir zu bekannt aus anderer Quelle. Von seiner Biographie ist alles, was er sagt, nicht stimmig.

Töpfer: Was weißt du denn von seiner Biographie?

Jagodczynski: Zumindest, daß er bei der RAF war, daß er schwer was mit kommunistischer und proletarischer Befreiung zu tun hatte. Ich hätte erwartet, daß er viel stärker links steht und vom linken Denken geprägt ist wie z.B. der Harald Wessel, den ich zwei mal erlebt habe. Da ist es durchgeschimmert, obwohl er jetzt nicht unbedingt sagt: Mit dem Reich kann ich nichts anfangen. Aber bei ihm schimmert immer linkes Denken und linke Fragestellungen durch. Oberlercher, als er anfangs bei den Rechten aufgetreten ist, der hat immer einen gewissen Mut gezeigt, und der war auch immer anders. Der hat den sog. Rechten auch immer gewisse Wahrheiten ganz mutig an den Kopf geschmissen. Das habe ich immer bei Mahler vermißt. Ich dachte, daß da bei Mahler bestimmte Sachen kommen, die markanter als persönliche Erkenntnisse zu erkennen sind.

Töpfer: Mein These ist ja, daß Mahler nie ein Linker gewesen ist. Zumindest nicht links in dem Sinne, wie ich es verstehe: emanzipatorisch. Mahler war höchstens ein autoritär-dogmatischen Linker. Du brauchst doch nur mal das RAF-Phantom zu lesen; da kriegst du doch mit, wie die – oder Geheimdienste, das ist doch alles verwoben – die linke Bewegung kaputtgemacht haben. Ich sage nicht, daß die ganze RAF Agenten der Dienste war – die werden natürlich ihren guten Impuls gehabt haben –, aber authentisch Linke im Sinne einer Emanzipation waren sie ganz bestimmt nicht. Jedenfalls ist das Resultat für sie verheerend. Und Mahler ist sich tatsächlich treu geblieben als Autoritärer und Dogmatiker, wenn er sich heute hinstellt als unser Ajatolla...

Jagodczynski: ... als Ajatolla des Hegelianismus.

 

(hier weiter zu Teil 2)