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Auseinander- und Zusammensetzung mit
Nationalmarxisten, Nationalhegelianern und anderen Philosophen


Peter Töpfer: „Mein Ich hat Hunger“ und Islands Thingdemokratie als Verein der Egoisten. Über eine populär-philosophische Veranstaltung in der Berliner Urania

Am Sonntag, den 8.10.00, gab es in der Berliner Urania im Rahmen einer philosophischen Matinee-Reihe eine Veranstaltung mit Lutz von Werder unter dem Titel „Die Philosophie des Glücks in der Moderne: Max Stirner“. Einige Tage zuvor meldete sich B., ehemaliges oder vielleicht auch Noch-NPD-Mitglied. Er interessiere sich für nationale Anarchie, hätte von einer gewissen geistigen Stagnation die Schnauze voll, wolle mal etwas andere Luft schnuppern und was über den nA-Ehrenguru Max Stirner erfahren. Da ich viel zu faul und rückverdummt bin, großartig was zu Stirner zu sagen, außer daß er der nA-Chefdogmatiker ist, und gerade vom Kamernossen MM von dieser Veranstaltung erfahren hatte, dachte ich mir: lädst ihn am besten mal dazu ein; laß mal jemand anders sich den Mund fußlig quatschen! Der wird ja auch dafür bezahlt! Hinterher könnten wir ja noch über dies und das plaudern.

Der Vortrag Lutz von Werders fand in gemütlichem Ambiente statt, und zwar im Foyer der Urania, also im Café. Das Publikum bestand fast ausschließlich aus älteren Damen und Herren, die mir den Eindruck von Stammgästen des philosophischen Cafés machten. Schön, wenn die Senioren sich bei nettem Zusammensein zur Kontemplation treffen!

Der Eintritt kostete 9,50 DM! Hatte „Urania“ früher mal nicht was mit Bildung der unteren Schichten zu tun?

Der Philosoph Lutz von Werder legte in seinen Ausführungen zu Stirner und dessem Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ den Schwerpunkt auf den „Einzigen“. Ich finde eigentlich, daß es derzeit, wo uns so einiges weggenommen wird, eher auf das Eigentum ankommt. Von Werder machte aus dem Stirnerschen Ich irgendwas Abstraktes. Bei Stirner gibt es „das Ich“ eigentlich ja gar nicht; er schreibt lediglich „Ich“ groß, verwendet es aber m.W. nicht als Ding-, sondern als Fürwort, spricht also nicht von „meinem Ich“ u.ä. Blödsinn à la „mein Ich hat jetzt Hunger“... So stellte von Werder z.B. dem Publikum, das er löblicherweise an vielen Stellen aktiv teilnehmen ließ, die Frage, was ihm jeweils das Wichtigste sei oder was ihm am nächsten stünde: die Kultur, der Staat, die Gesellschaft (oder andere abstrakte Sachen) – oder Ich (bzw. das Ich). Es hätte – im Sinne Stirners – natürlich heißen müssen: ... oder Sie (selbst)? Auf diese Art wird aus mir wieder etwas von mir entferntes, losgelöstes; und zu den Begriffen, deren Irrealität Stirner so großartig aufgezeigt hat, gesellt sich nun auch noch „das [angeblich] Stirner’sche Ich“. Stirner meinte, wenn er von „(s)Ich“ sprach, sich selbst. Eine Art Pervertierung Stirner’scher Gedanken; Wilhelm Reich hätte vom „Gegenstück des Kleinen Mannes“ (im Gegensatz zum „schöpferischen Gedanken“) gesprochen: hie „ich“, da „das Ich“.

Eine etwas populistischere und weniger wissenschaftlich-bildungsbürgerliche Ausdrucksweise wäre bestimmt mal ganz wohltuend.

Dennoch gelang ihm mit dieser Frage auf quasi zen-buddhistische Art ein schneller Einstieg in Stirner’sche Gefilde, und das Volk, zumeist Stirner-Unkundige, gab instant mit einem erstaunten und hörbarem Schmunzeln zu erkennen, daß es im Bilde sei.

Von Werder outete sich weiter als Vulgär- oder Pseudo-Stirnerianer, indem er von einem ominösen „bösen Ich“, mit dem Stirner das Unbewußte Freuds vorweggenommen hätte, im Gegensatz zu einem „guten Ich“ sprach. Zwei Ichs wohnen, ach, in meine Brust... Diese Art Doppel-Ich ist mir bei Stirner eigentlich noch nicht aufgefallen, aber ich habe ihn ja auch nicht studiert...

Interessant wurde die interaktive Veranstaltung, als von Werder zum Thema „Verein der Egoisten“ kam. Dieser Begriff löste in der Zuhörerschaft erneut Heiterkeit aus, was mich überraschte. Es handelte sich wohl um ein sog. befreiendes Lachen. Von Werder bat das Publikum darüber nachzudenken, was Stirner wohl damit gemeint haben könnte bzw. was es sich unter diesem Begriff vorstellen könnte. Der Erste meinte, der Verein der Egoisten könnte ein Philatelisten- oder Schachspieler-Club sein: alles, wo gemeinsamen Hobbies nachgegangen wird. Über weitere Vorstellungen dieser Art näherte man sich Vereinen, die ganz verschiedene, mehrere Aspekte bzw. Konstituanten beinhalten, und eine Frau sprach von der Familie als einer Gemeinschaftsform, in der die einzelnen Mitglieder frei und selbstbestimmt sein könnten und die durch die Liebe, nicht aber durch Zwang, gebunden sein könnte. Im Idealfall sei die Familie eine Art Verein der Egoisten. Von Werder griff diese Überlegungen auf, schraubte sie auf eine höhere Ebene der Vergemeinschaftung und lenkte nun das Interesse auf Menschengruppierungen, die über das Familiale hinausgingen und tiefere, ökonomische, die Existenz betreffende Aspekte aufweisen. Wir hätten in der Schweiz und in Island Formen von Volksherrschaften, die durchaus den Charakter eines Vereins von Egoisten aufweisen, so von Werder.

Hier nun sah ich dem Moment für gekommen, mich oberlerchistisch in Wortergreifung zu üben und meinte: „... womit wir bei der nationalen Frage angelangt wären.“ Ich sagte, daß, wenn für Stirner, wie eingangs richtig von von Werder ausgeführt, das Vaterland eine Einbildung sei, dieses „Vaterland“ für Stirner mit Sicherheit der bürgerliche Nationalstaat gewesen sei, der in der Tat ein Konstrukt ist, daß er aber gewiß nicht die Existenz von sich schicksalhaft-existentiell, ökonomisch, kulturell, sexuell-attraktionell, sprachlich, gefühlsmäßig usw. definierenden Menschengruppen leugnen würde. Wir müßten, von Stirners rigorosem „Individualismus“ ausgehend, das Nationale neu, und zwar transkapitalistisch, definieren und – von Werder hätte dies bereits getan – möglicherweise an vorbürgerliche und vorfeudale Gemeinschaftsformen anknüpfen, uns quasi von der Verfaßtheit etwa germanischer, aber auch anderer primitiver Gemeinschaften, in denen das Individuum und seine Freiheit einen zentrale Stellung einnahm, inspirieren lassen, zu allererst aber natürlich von unseren Gefühlen leiten lassen, um nicht in eine Art Normativismus zu geraten.

Das bis dahin so warm-gemütliche Urania-Café durchzog nun ein eisiger Wind. Und von Werder glaubte nun, meinen Worten nun sofort etwas entgegenhalten, sich von dem Gesagten scharf distanzieren zu müssen; ich vernahm nur noch Vokabeln wie „Ausschwitz“, „Judenvernichtung“ und „Faschismus“...

Später beruhigte er sich wieder und kam selber wieder auf das Nationale als einer Ebene, auf der, wie er meinte, durchaus Stirner’scher Geist befruchtend wirken könne, zurück.

Siehe zu Stirner und Nation u.a. auch: „Neue Kultur“? Eine nihilistische Tabularasa als Grundlage einer Neugeburt

Lutz von Werder