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Arthur Janov: Über Moral

(Weitere Texte von Arthur Janov hier: http://otopie.de/J/Janov/)

Meine Hypothese lautet, daß es Moral auf den tiefen Ebenen menschlichen Seins nicht gibt. Moral ist ein Konzept der dritten Ebene [“neokortikale, kognitive Ebene”, reines Denken, Intellekt – nA], das das umfaßt, was sein sollte, und dann auftritt, wenn Menschen ihren inneren Zugang verloren haben. Auf der fühlenden Ebene des Seins [“zweite Ebene” – nA] gibt es keine Moral, keine Vorstellungen von Recht und Unrecht; da gibt es nur das, was ist. Gefühle sind im Gegensatz zu Moral nie Bewertungen; es sind Zustände. Moralische Grundsätze, weil sie nur so tief wie die dritte Ebene sind, müssen, um überhaupt eine Wirkung zu haben, immer wieder neu heraufbeschworen werden, unter Zuhilfenahme wirklich und imaginärer Strafen, um so natürlichen Gefühlen und Impulsen entgegenzuwirken. Wenn ein Mensch seine eigenen Gefühle haben darf, verflüchtigt sich jede Moral. Gefühle sind die einzigen moralischen Prinzipien des natürlichen Menschen. Sie leiten ihn an, ehrlich, rücksichtsvoll, freundlich, großzügig etc. zu sein. Wenn Fühlen durch Neurose verhindert wird, wenn der Mensch frustriert und wütend ist und dem, was er fühlt, nicht trauen kann, dann muß er durch Moral in Schach gehalten werden. Der neurotische Mensch kann nicht freundlich oder rücksichtsvoll sein und all die Tugenden, die wir gern preisen, nicht wirklich haben.

Wenn Menschen nicht ihren Gefühlen entsprechend leben können, müssen sie sich von den Kategorien “richtig/falsch” leiten lassen. Für sie muß alles Verhalten klassifiziert sein. Wenn die Großmutter, die Kinder seien “böse”, weil sie sie nie anrufen oder besuchen, so berücksichtigt sie nicht deren Wünsche und deren Gefühle, sondern nur ihre eigenen Bedürfnisse. Ja, es ist der Moralist, der “Sünde” überhaupt erst erschafft, und das nicht nur im semantischen Sinne, nämlich insofern, als es eines Moralisten bedarf, um allein die Vorstellung von Sünde zu entwickeln, sondern auch weil es die moralischen Prinzipien sind, die Gefühle bekämpfen und im späteren Leben abweichendes, “sündiges” Verhalten erzeugen. Diese Prinzipien blockieren natürliche, reine Impulse und verwandeln sie in unmoralische Handlungen. Man denke an den Mann, der trinkt, nach Hause kommt, die Kinder verprügelt und dann zur Beichte geht und “Vergebung” erhält. Wenn er seinen Schmerz fühlen könnte, hätte er es von vornherein gar nicht erst nötig, ihn wegzutrinken. Wenn er seinen alten Zorn auf die Eltern fühlen könnte, müßte er ihn nicht an seinen Kindern auslassen. Und nachdem er seine Kinder verprügelt hätte, müßte er schon gar nicht irgendwohin gehen und sein Verhalten als “Sünde” einordnen lassen, damit ihm vergeben werde. Die Vorstellung von der “Vergebung” ändert überhaupt nichts, beseitigt gar nichts. Sie ermöglicht dem Menschen allenfalls eine vorübergehende Erleichterung, aber nur für kurze Zeit; danach agiert er wieder auf die gleiche Weise wie vorher. Gefühle heben Moral auf und machen sie zu einem nichtigen Konzept; Verhalten zu klassifizieren hilft uns nicht automatisch, es zu verstehen. Fühlende Menschen können anderen nicht weh tun, nicht einmal Tieren. Denn sie fühlen, sie erleben die Wirkung jeder ihrer Handlungen. Sie können den Schmerz anderer fühlen und würden einfach nichts machen, was anderen weh tun könnte. Für fühlende Menschen besteht keine Veranlassung, unmoralisch zu sein (in dem Sinne, wie es gemeinhin verstanden wird). Sie wollen nicht mehr, als sie brauchen; deshalb müssen sie nicht ermahnt werden, sie sollten nicht habgierig sein. Die gesamte Moral basiert doch auf der Annahme, wir seien von Geburt schlecht und müßten vor natürlichen “schlechten” Impulsen bewahrt werden. Wir haben uns so lange mit Neurose und den dazugehörigen unmoralischen Verhaltensweisen befaßt, daß wir inzwischen verfälschtes Leben als die Natur der Sache akzeptieren. Erst wenn wir den Menschen wirklich zu seinen Gefühlen bringen, sehen wir, was für ein reines, ehrliches und moralisches Wesen er ist. Und die eigenartige Dialektik liegt darin, daß gerade die moralischste aller Institutionen – die Kirche – eben jene gegen Gefühle gerichtete ldeologie verbreitet, die zu “unmoralischem” Verhalten führt – wie Trunksucht, Homosexualität etc.

Wenn man den Menschen nicht geben kann, was sie brauchen, muß man ihnen Moral geben. Moral ist der Erzfeind des Menschen. Als Unterdrücker von Gefühlen bewirkt sie, daß wir uns einander gegenüber unmoralisch verhalten. Gerade in Ländern, in denen Religion einen besonders festen Stand hat, herrscht oft Hunger. Wo die Gesellschaft sich den Menschen gegenüber am unmoralischsten verhält, ist Moral besonders mächtig. Die ganze Vorstellung einer späteren Belohnung dient dazu, Menschen daran zu hindern, in der Gegenwart Erfüllung zu finden. Es bringt sie dazu, sich ausbeuten zu lassen und Profit für andere zu produziren. Denn ohne eine spätere Belohnung im Himmel könnte das Volk beschließen, sich im “Jetzt” ein besseres Leben zu machen. Je mehr Bedürfnisse den Menschen versagt werden, um so größer das Bedürfnis, ihnen Moralprinzipien einzuimpfen, die sie diese Entbehrungen ertragen lassen. Moral ist das Opiat des Volkes. Die Suprastruktur der Moral einer Gesellschaft steht in umgekehrtem Verhältnis dazu, wie fühlend sie ist. Moral ist im Grunde ein totalitäres Konzept, denn sie stellt eine äußere Kraft dar, die den Menschen bestimmte Verhaltensweisen aufzwingt. Je weniger eine Gesellschaft auf Bedürfnisse Rücksicht nimmt, um so stärker muß sie unterdrücken. Je weniger Gefühle zugelassen werden, um so mehr äußere Richtlinien müssen geboten werden. Unterdrückung und Moralismus gehen miteinander Hand in Hand. Moralismus ist die Art, wie Unterdrückung durchgeführt wird, und Unterdrückung ist der Urquell für Moralismus. Meistens lassen gerade die von einer Kirche dominierten, besonders moralischen Gesellschaften die mit Abstand unmoralischsten Dinge geschehen, durch die Kriege fortgesetz, Sicherheitsdenken gefördert und jene bestraft werden, die fühlen und ihren Gefühlen entsprechend handeln wollen, anstatt nach Moralgesetzen. Einem fühlenden Menschen käme der Gedanke an Moral gar nicht erst in den Sinn. Sein Fühlen selbst läßt ihn moralisch handeln; Moral ist mithin keine äußere Kraft, die feierliche Verehrung verdient. Moral ist seine Lebensart und nicht etwas, was ihm gegen seinen Willen aufgepfropft wird.

Recht und Unrecht sind offensichtlich Abstraktionen, keine Realitäten. Wir sind zu unseren Kindern nicht grausam, und das nicht, weil es “Unrecht” ist, ihnen weh zu tun, sondern weil ein fühlender Mensch einem anderen nicht weh tun kann. Wir sehen nicht davon ab, sie zu schlagen, weil ein anderer dem das symbolische Etikett “böse” verleiht, sondern weil fühlende Menschen von vornherein im wirklichen Sinne des Wortes moralisch sind. Wenn wir Menschen sagen müssen, sie dürften nicht grausam sein, so geschieht das nur, weil wir davon ausgehen, daß sie es ohne Be- und Einschränkungen tatsächlich wären – Moral basiert also auf einem grundlegenden Mißtrauen in menschliche Intentionen. Wir müssen noch lernen, daß Gefühle die einzig sinnvolle Disziplin sind. Gefühle setzen impulsivem, antisozialem Verhalten ein Ende.

Die obige Diskussion muß notgedrungen zu der Frage führen: “Wird das Fehlen moralischer Prinzipien in einer Gesellschaft nicht zur Anarchie führen?” Die Antwort lautet “ja”, allerdings bedarf diese Antwort einer Klärung des Begriffs “Anarchie”. Ich bin der Auffassung, das Bedürfnis, regiert zu werden, sich sagen zu lassen, was man zu tun und zu machen habe, mit zunehmendem Fühlen nachläßt. Wir werden für eine reibungslose soziale Interaktion immer einige Grundregeln brauchen, aber sich den Regeln des Gesetzes anstatt den Regeln der Gefühle zu unterwerfen ist eine andere Sache. Von Gefühlen regiert zu werden verringert das Bedürfnis nach dem Gesetz als externer Kraft. Anarchie – eine “Jeder-für-sich-Haltung” – wird durch unsere gegenwärtige nichtfühlende Gesellschaft erzeugt. Die Gesellschaft produziert eine Überfülle von Gesetzen, weil man den Menschen nicht trauen kann. In einer fühlenden Gesellschaft macht jeder Mensch “seine eigene Sache”, nur ist das nicht mit Ausbeutung anderer verbunden, da niemand überschüssige vergrabene Bedürfnisse hat. Wenn in einer neurotischen Gesellschaft jeder Mensch “seine eigene Sache” macht, dann läßt sich von wahrer Anarchie sprechen.

Wenn ich sage, wir müßten uns von unserem Gefühl regieren lassen, sollte ich hinzufügen, daß Neurotiker meinen, sie fühlten. Ehe sie nicht tiefen Urschmerz erlebt haben, können sie nicht wissen, daß sie niemals tief gefühlt haben. Der Neurotiker mag sich für moralisch halten, weil er sich über seinen Zorn “erhoben” hat, aber diese Haltung vermag seinen Zorn nicht zu beseitigen, sie hält ihn nur vergraben. Erst dadurch, daß man in die eigene tiefe Wut “versinkt”, wird sie ausgerottet, erst so werden wir zu aggressionsfreien, moralischen Wesen. Anders erreicht man allenfalls oberflächliche Frömmelei und salbungsvolles Getue, und die sind nie real. Das ist Scheinmoral. Wenn man frustriert und depriviert heranwächst, müssen im Innern ganz offensichtlich wirkliche Wut und vielleicht auch Rachegelüste entstehen. Wenn wir uns über diese Gefühle erheben, geben wir nur vor, moralisch zu sein, im Grunde aber ist dann alles Heuchelei. Für Neurotiker ist mithin Schmerz der Weg zu wahrer Moral, und neurotische Moral ist der Weg zu Schmerz.

Sobald wir einmal verstanden haben, wie neurotisches Verhalten – zum Beispiel Perversionen – durch Schmerz in Gang gehalten wird, besteht kein Bedürfnis mehr, zu moralisieren und “Sünde” zu erschaffen. Wir können Sünde erst überwinden, wenn wir uns über die Moral hinwegsetzen. Schmerz erster und zweiter Ebene führt zu Unmoral auf der dritten Ebene; und das Erleben dieses Schmerzes führt zu wahrer Moral. Schmerz ist der Preis, den wir für die Wahrheit zahlen, und Sünde ist das Unvermögen, diese Wahrheit zu fühlen – das Unvermögen, wir selbst zu sein. Solange Menschen keinen inneren Zugang zu der schmerzhaften Wahrheit haben, müssen sie allein auf der dritten Ebene operieren. Und auf dieser Ebene treten sowohl Moral als auch Sünde in Erscheinung. Ist man einmal zu seinen Gefühlen vorgedrungen, gibt es weder Sünde noch Moral.

Ich betrachte das Primärinstitut als eine moralische Institution, gerade weil sie keine Moral einimpft. Es gibt bei uns keine Bewertung und keine Schuld. Beziehungen zwischen Institutsangehörigen und Patienten beruhen auf Gefühlen, nicht auf Regeln. Es gibt eine Hierarchie, soweit es die Fachkenntnisse betrifft, jedoch keine Befehlskette. Es gibt keine höhere Moral, an die wir uns wenden, um unsere Schwierigkeiten zu bewältigen; das wird von Gefühlen besorgt. In der äußeren Gesellschaft ist die gesamte Suprastruktur moralisch getönt, eben weil sie nicht von Gefühlen gelenkt wird. Jede soziale Institution ist, und sei es noch so unbewußt, darauf angelegt, sich auf die eine oder andere Art mit dem Unvermögen zu fühlen auseinanderzusetzen. Selbst in den Nervenheilanstalten gibt es “schlechte” Verhaltensweisen, die wegkonditioniert werden müssen. Die therapeutische Ideologie ist so durchtränkt von aufgesetzter Moral, daß sie nicht einmal bemerkt wird. Schulen sind in jeder Hinsicht genauso moralisch wie die Kirchen; auch hier werden Gefühle als nicht dazugehörige Dinge betrachtet, die sich störend auf die Regeln auswirken. Die Schulbehörden kommen gar nicht erst auf den Gedanken, daß Regelungen sich erübrigen würden, wenn man uneingeschränktes Gefühl zuließe. Wenn Gefühle dominieren, besteht kein Bedarf für äußere Kräfte. Im Gegenteil, für jede Abschaffung entsteht ein nur noch stärkerer Zwang – das ist eine Tretmühle, ein Netz, in dem die wirkliche Lektion nie gelernt wird

Gefühl ist das einzig wirklich moralische Prinzip. Es ist ohne Frage ein beängstigender und einsamer Gedanke, zu erkennen, daß niemand “dort oben” ist, der urteilt und die Rechnungen für all unsere früheren Leiden begleicht. Der Gedanke, daß wir uns nur durch Fühlen leiten lassen sollten, ist beängstigend, denn es bedeutet, unserer “Sicherheit” ein Ende zu setzen. Wir können unser Handeln nicht mehr anhand von Formeln gesellschaftlicher Anerkennung oder Ablehnung berechnen; haben keine praktischen Anleitungsbücher, keine ewigen Wahrheiten oder östlichen Philosophien mehr, die uns führen könnten; keinen Halt in Familientradition, Etikette etc. Es ist alles nur eine Frage des mit sich selbst Ehrlichseins. Qual ist der Preis für ein moralisches Leben.

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