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Sport
Peter Töpfer: Warum Frankreich Fußball-Weltmeister wurde
Der französische Fußball-WM-Sieg hat eine präzise Geschichte und ist das Ergebnis einer erfolgreichen langfristig vorbereiteten Revanche-Aktion.
Alles begann mit einer Schmach: der Schmach von 1982, wenngleich die wahren Wurzeln ewig zurückliegen mögen in der Geschichte.
1982 fanden die Fußball-Weltmeisterschaften in Spanien statt. Nicht nur, daß es fast Heimspiele für die französische Mannschaft waren und daß die Franzosen als Europäer sich Hoffnungen auf den Sieg machen konnten, da
es in der Geschichte der Fußball-WMn noch nie Nichteuropäern gelungen war, in Europa den Titel zu erringen – Frankreich hatte zu jener Zeit eine exzellente, ja – insbesondere, was das Mittelfeld mit
Tigana, Giresse und Platini angeht – eine geniale Mannschaft, die 1982 auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsstärke war und deren Gewinn der Europameisterschaften 1984 im eigenen Land eine reine
Selbstverstädnlichkeit war, errungen im Vorbeigehen, der die Schmach von 1982 nicht wettmachen und mit der Revanche-Aktion, von der hier die Rede ist, rein dramaturgisch nichts zu tun hatte, weil Frankreich
als Ausrichter jener EM seit langem festgestanden hatte. Die Ausrichtung der WM im Jahre 1998 aber hat eine genaue Geschichte, und die hatte ihren Ausgang in jener Schmach von 1982.
Wie gesagt war Frankreich 1982 dem WM-Titelgewinn noch nie so nahe. Es stand zum Dritten Mal in einem WM-halbfinale, und dies unter Leitung eines Spielführers – Michel Platini –, den Experten für
das zweitgrößte Fußball-Genie der Geschichte halten. Frankreich, das ansonsten nie zur absoluten Weltspitze zählte, wollte und sollte Weltmeister werden und der Gott der Gerechtigkeit wollte dies auch. Aber
irgendein anderer Gott funkte dazwischen und ließ es nicht zu. Denn im Halbfinale traf man auf Deutschland.
In diesem ging Frankreich, zwar erst in der Verlängerung, aber dennoch gemäß der Vorsehung, mit 3:1 in Führung. Alles schien glatt zu laufen.
Ich habe dieses Spiel in Frankreich mit französischen Freunden am Fernseher erlebt und kann von einer Enttäuschung und einer Trauer berichten, deren wahre Ausmaße nie über die Grenzen gedrungen ist, von denen man in
Deutschland nichts gespürt hat. Deutschland siegte in diesem Halbfinale, nachdem alles bereits festzustehen schien, noch im Elfmeterschießen, nachdem Deutschland in der regulären Spielzeit durch den eingewechselten,
leichtverletzten, jedoch aber als letzte Rettung an die Front geworfenen Karl-Heinz Rummenigge innerhalb der letzten fünfzehn Minuten noch ausgleichen konnte. Frankreich wähnte sich mit dem 3:1 in Sicherheit. Die
daraus resultierende Unachtsamkeiten, Unaufmerksamkeiten wurden hart, sehr hart bestraft: Man hatte fatalerweise den alles bis zuletzt nach vorn werfenden deutschen Kampfeswillen doch noch unterschätzt, man hatte
doch wieder sträflich nicht mehr mit dem Kämpfertum der deutschen Fußballmaschinerie, den deutschen panzers, wie die deutschen Fußballer fortan in der internationalen Sportpresse hießen, gerechnet. Zudem sich
die damalige deutsche Mannschaft mit Teutonen wie Hans-Peter Briegel, einem ehemaligen Zehnkämpfer, der nie mit Schienbeinschützern gesehen ward (le panzer par excellence), und Kalz ebenfalls berechtigte
Hoffnungen auf den Titel machen durfte. Deutsche Kraft gegen fanzösische Eleganz. Und die Eleganz wurde von der deutschen Kraft “niedergewalzt”, wie es weltweit neidisch und enttäuscht vom deutschen Sieg
hieß.
Wie tief der Schock und die Enttäuschung über die Niederlage, mit der allerspätestens beim Spielstand von 3:1 nicht nur kein Franzose, sondern überhaupt niemand mehr (außer den deutschen Spielern, die nicht aufgaben)
gerechnet hatte, den Franzosen in die Knochen fuhren und dort bis ins Jahr 1998 stecken blieb, kann nur ein Franzose selbst bzw. jemand, der wie ich in jenen Jahren in Frankreich lebte, ermessen.
Wir, deutsche und französische Freunde – die Deutschen unter uns als solche unschwer zu erkennen –, wollten nach dem Spiel ausgehen und den spannungsvollen Abend bei gutem Essen und Wein ausklingen
lassen, aber in den ersten beiden Restaurants schallte uns entgegen: “Chumaker uhst!” oder “Chuhmachärr ra-úhs!” Harald Schumacher, ein weiteres blondes deutsches Ungetüm, hieß der deutsche
Torwart, der den französischen Spieler Battiston rüde gefoult hatte, so daß dieser ohnmächtig liegen geblieben war. Schumacher hatte den Franzosen vollends erniedrigt, als er nicht die Spur von Reue zeigte; seine
einzige Reaktion war gewesen, Battiston, dessen Unterkiefer vollständig ramponiert war, solle sich als Profi nicht so haben und ihm seinetwegen die Zahnarzt-Rechnung schicken. Jahre später hat er sich doch noch
entschuldigt, und man sagt, sie seien “Freunde geworden”.
Die Namen der deutschen Spieler drangen tief ins Bewußtsein der Franzosen ein. Auch ich hatte bald einen weg, hieß von diesem Tag an bei meinen französischen Kollegen Ons-Pietär Briegöll. Besonders fasziniert
waren insbesondere die Kinder von Ruhmönigg. Und bei der maghrebinischen Jugend war er der Held.
Noch am selben Abend, spätestens nach dem Finale dieser 82er WM, das die nach dem dramatischen Halbfinale ausgepowerten Deutschen gegen Italien verloren hatten (und das die Franzosen natürlich und auf jeden Fall
gewonnen hätten...), muß seitens der Franzosen der Entschluß gefaßt worden sein, baldmöglichst eine WM im eigenen Land auszurichten. Unmittelbar nach dem Halbfinale schon, nach dieser nationalen Katastrophe, als
ganz Frankreich auf Jahre hinaus von einem Trauerschleier überzogen wurde (und der erst in den nationalistischen Feiern beim 98er Sieg weggeschoben und aufgelöst wurde), müssen entschlossene Franzosen –
Politiker, Funktionäre, mit Sicherheit auch Platini selbst – die Bewerbung für die Ausrichtung einer WM beim Fußball-Weltverband FIFA eingereicht haben und begonnen haben, um diese zu kämpfen. Michel Platini
hat nach Ablauf seiner Fußball-Karriere die eines Funktionärs angetreten, und ob er das ohne die Enttäuschung von 1982 getan hätte, ist fraglich. Der Antrieb zu dieser Funktionärstätigkeit, d.h. zum Kampf an
einflußreicher Stelle um die Ausrichtung einer WM und letztlich um den rächenden, wiedergutmachenden Triumph bei einer solchen, stammte von dieser als höchst ungerecht empfundenen Niederlage im 82er Halbfinale. Daß
der Gegner Deutschland hieß, ist dabei sekundär, mag aber die Verletzung verstärkt haben.
Ein erster Etappensieg war errungen, als Frankreich die Ausrichtung der WM 1998 zugesprochen bekam. Ein neues, riesiges, supermodernes Stadion wurde eigens für diese WM in der Pariser Vorstadt St. Denis, wo über
Jahrhunderte hinweg französische Könige beigesetzt wurden, gebaut, das den Namen Stade Michel Platini tragen sollte. Der bescheidene Platini verhinderte dies. Es erhielt den Namen Stade de France. Auf
das Endspiel in diesem Stadion im Jahre 1998 ist 16 Jahre lang gezielt hingearbeitet worden. Mit großem Erfolg.
Es hat mich immer sehr erstaunt und überrascht, wie wenig dies alles in Deutschland wahrgenommen wurde. Ich , der in beiden Kulturen, in Frankreich und in Deutschland beheimatet war und noch bin, habe es nie
verstanden, wie es nur kommt, daß der eine vom anderen so wenig mitbekommt, daß er nicht bemerkt, was im anderen vor sich geht. Wenn ich diese Geschichte erzählte und noch erzähle, ernte ich stets ungläubige
Skepsis. Die Deutschen wollen nicht wahrhaben, können nicht glauben, welche Bedeutung dieses 82er Halbfinale für den Nachbarn hatte.
Der für den Wissenden und Mitfühlenden geradezu gesetzmäßige Weltmeisterschaftssieg der Franzosen im Endspiel gegen die hochfavorisierten Brasilianer im Juli diesen Jahres mußte die Unwissenden, die mit dieser
Geschichte, dem Hintergrund nicht Vertrauten, völlig überraschen. Entsprechend war es wiederum keine Überraschung, daß nach dem Franzosensieg prompt Verschwörungstheorien wild ins Kraut schossen. Der Mangel an
Hintergrundwissen wird sofort mit den sog. Hintergrundmächten ausgefüllt. Wofür man kein Gespür hat, das muß eingefädelt, das muß Ergebnis von Intrigen, von werkzeuglich-zwecklicher Absprache sein. Es fällt wieder einmal mehr auf, daß, je weniger ein Mensch fühlt, spürt, empfindet, seine Sinne beisammen hat, er desto schneller Verschwörungstheorien verfällt, entwickelt. Je weniger Gespür und Tiefgang, desto mehr Mechanik, Pseudorationalität, Oberflächlichkeit, Vereinfachung, Unidemensionalität in der Erklärung von Erscheinungen, desto inkommensurabler aber auch der ge(w)ahnte “Hintergrund”. Anzunehmen, die schwervermögenden, von tiefstem Fußballglauben besessenen Brasilianer könnten sich von wem auch immer bestechen lassen, zeugt von ziemlicher geistiger, das heißt aber vor allem emotionaler Gestörtheit. Mangelndes Gespür, Gefühl und damit Wahrnehmungsvermögen ist Ergebnis von Gefühlsunterdrückung, Gefühlsraub in der Kindheit. Den Menschen wird das Gefühl, das Herz aus dem Leibe gerissen, und übrig bleibt reine Mechanik. Der Rekurs auf die Korruption resultiert aber auch aus der Tatsache, daß der Verschwörungstheoretiker selbst korrumpiert ist und sich ein Leben ohne Korruption überhaupt nicht vorstellen kann. Dadurch, daß er als Kind in einer ihm feindlich gesinnten nächsten Umgebung (Familie) sein wahres Selbst aufgeben muß, wird er Opfer einer äußersten Ich-Schwächung und verliert jede Selbständigkeit. Er kann das Leben allein und aus eigener Kraft nicht mehr bestreiten, ist auf fremde “Hilfe” angewiesen und anderen, stärkeren ausgeliefert. Diese lassen sich ihre Dienste auf die eine oder andere Weise entlohnen, bezahlen. Je ich-schwächer, desto korrupter. Die zivilisierte, d.h. sich selbst entfremdete, in ihrer ersten Natur zerstörte Menschheit ist von Korruption durchseucht. Korruption ist modus vivendi dieser Menschheit. Eine andere Lebensweise, beruhend auf Fähigkeit, Vermögen, Mächtigkeit der starken, freien Persönlichkeit und deren Gemeinsinn und Solidarität ist dem Ich-schwachen unvorstellbar. Er fühlt sich und ist in allen Lagen und permanent abhängig, unfrei, muß dienen, Knecht sein, um leben zu können.
Je mehr ich von einer Sache weiß, d.h. je tiefer ich ihre Geschichte sehe – nicht im Sinne der äußeren Informationen, sondern der inneren Informationen, der gefühlsmäßigen Tiefe, des Erlebens, woraus die Sache
erst ihren Schwung, Drall, ihre Dynamik erhält –, desto verständlicher, nachvollziehbarer, aber auch in ihrer weiteren Entwicklung vorhersagbarer wird sie mir. Wer von dem besonderen élan des französischen Fußballs, der in der Niederlage von 1982 seinen Ausgang nahm und 1998 kulminierte und der selbst die Begeisterung, die Fußball-Religiosität der Brasilianer matt und außer Kraft setzte, nichts wußte, d.h. nichts ge- und bemerkt hat, für den ist die Sache nicht verständlich und der wird, ist er eine einigermaßen starke Persönlichkeit, die Sache – auch unverstanden – sich wundernd und dennoch gelassen hinnehmen, oder, ist er schwach und korrupt, in ihr das Ergebnis von Absprache und Korruption sehen.
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