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Ohne behaupten zu wollen, eine umfassende Beschreibung der Situation zu liefern und die Positionen der verschiedenen Personen in jener Zeit einigermaßen vollständig wiedergeben zu können, und ohne davon überzeugt zu
sein, aufgrund dieser Beschreibung zu einigermaßen logischen Schlüssen kommen zu können, folgendes zur Lage, so wie sie sich einige Monate nach Eröffnung der Buchhandlung La Vieille Taupe im Jahre 1965 aus meiner
Sicht darstellte:
Ich hatte von dem Geld, das ich mir mittels einer Hypothek auf die Wohnung meiner Eltern geliehen hatte, keinen einzigen Sous mehr. Ich hoffte auf eine Atempause, indem ich mit einem ,,Buchhändler” aus der Rue
Gay-Lussac, der über einen riesigen Vorrat an antiquarischen Büchern verfügte und seinen Laden aufgeben mußte, eine Vereinbarung traf. Er schlug mir vor, seinen Vorrat im Hinterzimmer meines Kellers zu lagern. Diese
Vereinbarung lief den Absichten Rene Viénets von der Situationistischen Internationale zuwider, und ich selbst habe bei weitem nicht die Nachteile sehen können, die daraus erwachsen sollten. Der ,,Buchhändler”
stellte sich als völlig unfähig und schließlich als größenwahnsinniger Betrüger heraus. Diese antiquarischen Bücher gehörten ihm einfach nicht. Der wirkliche Eigentümer - dieser ein richtiger Buchhändler - wurde
durch Vermittlung eines Gerichtsvollziehers vorstellig! Und um allem die Krone aufzusetzen, hatte der ,,Buchhändler”, indem er meine Unterschrift fälschte und mit meiner Schreibmaschine einem tatsächlich von
mir geschriebenen und unterzeichneten Brief Sätze hinzufügte, ein Dossier erstellt, mit dem er zu beweisen versuchte, daß wir Geschäftspartner seien und er Miteigentümer, d.h. Mitunterzeichner des Mietvertrages von
La Vieille Taupe wäre! Alles Dinge, die mich in meinen Diskussionen mit Viénet und den Situationisten* nicht gerade im besten Licht erscheinen ließen. Der
wirkliche Eigentümer der Bücher war ein gewisser Rujic, Mitbgliedsbuch Nr.6 der jugoslawischen KP in den zwanziger Jahren, also zwanzig Jahre vor Tito. Während des Krieges war er Geheimagent der 3. Internationale
und in dieser Funktion mit streng geheimen Missionen gegen die Untergrundführung der französischen KP beauftragt. Er war das Auge Moskaus gewesen und dadurch Mitwisser von Geheimnissen geworden, was ihn nach dem
Kriege vor der Partei und den sowjetischen Diensten mehrere Jahre lang in den Untergrund gezwungen hatte. Und er blieb sehr vorsichtig. Sein Schweigen über gewisse Episoden des ,,Widerstands” der Partei war
die Garantie dafür, daß er in Ruhe gelassen wurde. Er war von allem völlig abgekommen und schätzte die Leitartikel von Raymond Aron im Figaro. Im Mai 68 hatte er den Dingen zugeschaut und sich über die
,,erste von Bürgersöhnen gemachte proletarische Revolution” lustig gemacht.
Ich übergehe ein paar Einzelheiten im Kontext meiner Beziehungen zu Guy Debord, denn man müßte auch die Persönlichkeit einer weiteren hochangesehenen Person - angeberisch, größenwahnsinnig und diebisch auch sie -
auftreten lassen: den Bildhauer Carloti, von dem ich erst viel später - und zwar durch den wahren Träger des Namens - erführ, daß er weder Bildhauer war noch Carloti hieß, daß er sich diese Identität widerrechtlich
angeeignet hatte. Eine richtige Theaterschlacht, in der noch verschiedene Leute geringerer Bedeutung in Nebenrollen auftraten.
Zu Beginn des Jahres 1966 hat in Paris, in einem Café in der Rue Quincampoix, eine Tagung der Situationistischen Internationale stattgefünden - siehe Internationale Situationniste Nr.10. Die Natur unserer
Beziehung brachte es mit sich, daß ich dazu förmlich eingeladen wurde. Was nicht Mitglied zu werden - ein Begriff, der im Zusammenhang mit der SI sinnlos wäre - aber doch Teilzunehmer zu sein bedeutete. Viénet ist
zu mir gekommen, es auszurichten und Alice kam noch mal vorbei, mich daran zu erinnern, daß ,,wir uns heute abend sehen”; so daß ich annehmen mußte, sie wolle überprüfen, ob Viénet die Nachricht ordentlich
überbracht hat. Daraus schloß ich, daß die Einladung diskutiert, daß Viénet Einwände gehabt und daß die Entscheidung im Kollektiv getroffen worden war. Doch ich hatte schon Viénet gegenüber die Einladung abgelehnt.
Ich glaube übrigens, daß, wenn zuerst Alice gekommen wäre, oder Debord, ich die Einladung angenommen hätte. Ich habe die Entscheidung nie bedauert; doch habe ich mich immer gefragt, welche inzwischen nun auch schon
vergangene Zukunft eine andere Entscheidung mit sich gebracht hätte. Die Einladung bedeutete wahrscheinlich - nur ein Situationist konnte das bestätigen -, daß Debord die Situationisten davon überzeugt hatte, sich
mehr in die Buchhandlung einzubringen. Was meinen Wünschen entsprach. Doch Viénet hatte es mir in einer Art überbracht, in der man einem Prüfling eröffnet, daß er die zum Bestehen erforderlichen Leistungen nicht
erbracht habe, lediglich von der Nachsicht der Prüfungskommission profitiere.
Guy Debord bin ich zum ersten mal am 27. Oktober 1960 begegnet. Wir hatten zwei Tage zuvor miteinander telefoniert, um ein Treffen abzustimmen. Eine Demonstration gegen den Algerienkrieg, die von einiger Bedeutung
sein sollte, war für den 27. Oktober vorgesehen. Sie sollte an der Mutualité losgehen. Ich wohnte bei meinen Eltern, ganz in der Nähe des Panthéons, nicht weit von der Mutualité. Wir hatten verabredet, uns bei mir
zu treffen und gemeinsam zur Demonstration zu gehen. Nachdem wir ungefähr eine Stunde miteinander diskutiert hatten, haben wir uns dann der Menge angeschlossen, wo wir in den Schlägereien mit der Polizei ziemlich
schnell auseinander gerieten. Diesem ersten Treffen sollten viele weitere folgen.
Ich war neunzehn Jahre alt und hatte mich dank Jean-Francois Lyotard gerade der Gruppe ,,Sozialismus oder Barbarei” angeschlossen. Ich kam völlig ahnungslos aus meiner Provinz und war mit aller Kampfeslust und
Naivität ganz und gar der ,,revolutionären” Arbeit ergeben. ,,Sozialismus oder Barbarei” eröffnete mir die Perspektive einer radikalen Kritik der kapitalistischen Welt, sowohl in ihrer westlichen, als
auch ,,sowjetischen” Version. Allein die Idee, man könne jenseits dieses Minimalprogramms Politik machen, schien mir undenkbar, und die ,,kommunistische” Partei war für mich damals eine Partei von
Rechtsextremen, genau so wie alle anderen Parteien auch.
Daniel Blanchard (alias Canjuers), der schon vor mir bei ,,Sozialismus oder Barbarei” war, war nach Guinea seinen Militärdienst als Entwicklungshelfer leisten gegangen. Er hatte, bevor er wegging, mit Guy
Debord in Kontakt gestanden. Aus ihren Treffen war ein Text mit dem Titel ,,Präliminarien für die Definition der Einheit des revolutionären Programmes” hervorgegangen. Canjuers hatte diesen Text in Umlauf
gebracht, der bei ,,Sozialismus oder Barbarei” jedoch nur auf eine zurückhaltende, um nicht zu sagen herablassende Aufmerksamkeit gestoßen war. Ich bin trotzdem dazu bestimmt und auf Bitten Canjuers ganz
offiziell damit beauftragt worden, den Kontakt mit Guy Debord aufrechtzuerhalten, der davon unterrichtet worden war.
Kurze Zeit nach diesem ersten Treffen und dieser denkwürdigen Demonstration begegnete ich - durch einen Zufall, der keiner war - Guy Debord in Begleitung von Michèle Bernstein auf der Terasse eines jetzt
verschwundenen Cafés auf dem Boulevard St. Germain in der Nähe der Rue St. Guillaume. Sie kamen gerade von einer Ausstellung in der Rue Pré-aux-Clercs im flüchtig hergerichteten Keller eines Mietshauses. Dieses nun
war im Besitz der Familie eines Freundes aus der Kindheit, den ich über viele Jahre aus den Augen verloren hatte und nun mit Freuden wiedersah. Er war, so wie ich, gerade ,,hinauf nach Paris” gekommen, um hier
zu studieren. Ich hatte für diese Ausstellung eine Einladung erhalten und, als ich die Adresse las, angenommen, daß sie von diesem Freund stammte. Tatsächlich ist sie mir von Debord und den Situationisten
zugegangen. Als ich Debord und Michèle Bernstein auf der Terrasse des Cafés traf, hatte ich am Vortag diese Austellung besucht; doch wußte ich nicht, ob sie irgend etwas mit diesem Künstler zu tun hatten, außer daß
sie selber von dieser Ausstellung kamen, wie sie mir sagten, um ihre Anwesenheit an diesem Ort zu erklären.
Ich teilte ihnen also in aller Offenheit mit, wie sehr mir dieser ganze Rummel um eine im Zerfall befindliche Kunst einer Gesellschaft, deren Stadium der Auflösung ich damals noch keineswegs in seinem vollen Maß
erkannt hatte, egal war. Von dieser Ausstellung, von der ich nicht ausschließen möchte, daß sie ein bestimmtes plastisches oder bildliches Vermögen habe zu Tage treten lassen, ist mir keine Erinnerung geblieben, mit
Ausnahme des Umstandes, daß in einer entlegenen Ecke, wohin nicht jeder kommen konnte, und die mir zu zeigen meinem Freund peinlich war, die blasphemisch Darstellung eines gekreuzigten Christus zu sehen war. Er war
nackt; ein kleiner, hinter der Leinwand versteckter Elektromotor ließ ihn im Wechsel einmal die Papparme mit aufgeblasenem Bizeps beugen, ein anderes mal den züchtigen Lendenschurz aus Pappe heben. Ich sagte zu Guy
Debord und Michèle Bernstein, daß mir dieses blasphemische Getue als das genaue Gegenteil einer revolutionären kritischen Arbeit vorkam. Außer daß sie kontraproduktiv sei, ließ diese Verspottung nur auf eine ins
Gegenteil verkehrte Besessenheit vom Christentum schließen. Ich erinnere mich, auf das italienische und spanische Volk verwiesen zu haben, bei denen die Gotteslästerei mit einer vollkommenen Durchdringung mit
Christlichem einhergeht - wobei die Blasphemie nur deren Preis, oder besser: deren andere Seite der gleichen Medaille ist. Debord und Michèle Bernstein stimmten mir sofort zu; vielleicht hielt sich, wenn ich mich
recht entsinne, Michèle Bernstein etwas zurück. Bei den zahlreichen Treffen, die folgen sollten, war nicht mehr von Kunst oder Künstlern die Rede. Man kann im übrigen, einfach indem man die Nummern der Internationale Situationniste nachliest,
die Veränderung in der Haltung gegenüber der Kunst als isolierter Aktivität und deren Überwindung verfolgen, die sich ab Heft 5 (Dezember 1960) zeigt, in dem auf Seite 11 die Veröffentlichung eines gemeinsamen
Textes Debord/Canjuers angekündigt wird.
In der Folge traf ich Guy Debord öfter. Dies hat auch in den Heften 5, 6 und 7 der Internationale Situationniste seinen Niederschlag gefunden. Ich brachte Debord dazu, formell ,,Sozialismus oder
Barbarei” beizutreten. Als ich diesen Umstand kürzlich gegenüber einem Freund, der ein großer Kenner der Geschichte, der Veröffentlichungen und der Polemiken um die Situationistische Internationale ist,
erwähnte, zeigte sich dieser sehr verblüfft. Er glaubte so ziemlich alles zum Thema zu kennen, wußte aber nichts von dieser Episode. Er nahm nun an, Debord habe versucht, diese Sache zu verbergen oder zu verdrängen.
Sein Erstaunen brachte mich darauf, daß es keinen Text, daß es nichts gibt, was auf den formellen Beitritt Debords zu ,,Sozialismus oder Barbarei” deutet, während die Ausgaben der Internationale
Situationniste ansonsten eine recht vollständige und wahrheitsgetreue Chronik von allem, was die Situationisten lebten und dachten, bedeutet. Dieser Freund behauptete sogar, daß seines Wissens die meisten
Situationisten davon nichts gewußt hätten. Und dabei ist doch dieser Beitritt der Grund dafür, daß sich die Situationistische Internationale geradezu mauserte; was man leicht bei der Lektüre der Zeitschrift
feststellen kann, die allein die Bedeutung erklärt, die sie bekommen sollte. Wie dem auch sei: Ich bin absolut sicher, daß Guy Debord ,,Sozialismus oder Barbarei” beigetreten ist. Er hat an den Versammlungen
der Gruppe - meistens im Café ,,Le Tambour” an der Bastille - und an Redaktionskonferenzen der Zeitschrift wie auch an denen der Mitteilungen Pouvoir Ouvrier teilgenommen.
Wann es zu diesem Beitritt kam, kann ich nicht mehr sagen. Nachdem am 20. Dezember 1960 in Belgien mächtige Streiks ausbrachen - denen die Streiks 1953 in Ostdeutschland, von denen ich aus älteren Nummern von Socialisme ou Barbarie erfahren hatte, vorangingen, und vor allem der phänomenale Aufstand in Ungarn 1956, bei dem die Arbeiterräte eine führende Rolle gespielt hatten (siehe Socialisme
ou Barbarie Nr.20 und 21) - zweifelten wir nicht mehr am unaufhaltsamen Zusammenbruch der stalinistischen Regime und erwarteten das
Erwachen der europäischen Arbeiterklasse, das - fürs erste - dafür sorgen würde, daß ,,Maurice Thorez an den Gedärmen von Benoit Frachon an der Laterne hängen” würde.
Die Gruppe hatte sich am 31. Dezember mit einem englischen Genossen von ,,Solidarity”, der aus Belgien zurückkam, getroffen und beschlossen, mich dorthin zu schicken, um von dort über die Ereignisse zu
berichten und so viel wie möglich Kontakte zu knüpfen. Guy Debord nahm an dieser Versammlung teil. Er hatte selbst gerade einen an die Zeitschrift Internationale Situationniste gerichteten Brief eines
Belgiers erhalten. Debord hatte mir diesen Brief anvertraut und mich damit beauftragt, den Absender aufzusuchen, sowohl für Internationale Situationniste als auch für Socialisme ou Barbarie. Es
handelte sich um Raoul Vaneigem. (Übrigens: Viel später, als Vaneigem mit einer seiner Schülerinnen Hals über Kopf aus Belgien geflüchtet war, weil die Gendarmerie wegen ,,Verführung Minderjähriger” hinter ihm
her war, hat meine Frau dieser sehr erwachsenen ,,Minderjährigen” Kleider geborgt.) Etwas später nahm Debord an einer Gruppenfahrt teil, auf der wir versuchten, unsere Kontakte in Belgien in eine
,,Organisation” zu strukturieren; unterwegs haben wir Robert Dehoux getroffen. Der Ausflug verlief ziemlich chaotisch und war eine Enttäuschung, doch das gehört jetzt nicht hier her.
Das Datum Debords Austritts dagegen ist gewiß: Es war der Abend des 22. Mai 1961 am Ende einer dreitägigen ,,Internationalen Konferenz” - siehe Socialisme ou Barbarie Nr.33, S.95 -, die in Paris mit drei
oder vier Genossen von ,,Solidarity” stattfand - ein etwas großer Begriff für das bißchen: die angekündigten Delegationen aus Italien und Belgien erwiesen sich als Truggebilde. Debord nahm daran wie immer
teil, ergriff nur selten, dafür aber gezielt das Wort. Um dann am Schluß in aller Ruhe und Entschiedenheit Chaulieu (alias Cardan alias Castoriadis), dann Lyotard und schließlich allen anderen seinen beabsichtigten
Austritt mitzuteilen. Alle Versuche Chaulieus am gleichen Abend und am nächsten Tag, ihn noch einmal von seiner Entscheidung abzubringen, waren umsonst. Chaulieu zog alle erdenklichen Register der Verführung,
entwarf großartige Perspektiven, ,,wenn man nur die Bürokratenärsche und Rückständigen in der Gruppe verändern könnte” usw. usf. Debord hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Als Chaulieu geschlossen hatte,
meinte er nur: ,,Ja... aber... ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen.” Und: ,,Das wird sehr anstrengend sein” (die revolutionäre Organisation aufzubauen). Und kam zur nächsten Versammlung ins Café
,,Le Tambour”' offiziell seinen Austritt bekanntzugeben. Er zahlte den Beitrag für den vergangenen und für den laufenden Monat und sagte, er fände es sehr gut, daß die Gruppe existiere, doch habe selber
keine Lust mehr, ihr anzugehören. Er dankte für das, was er gelernt habe. Und entschwand.
Das hat ziemlich Staub, um nicht zu sagen Dreck aufgewirbelt. Kaum war er weg, prasselte es Angriffe. Die unglaublichsten Vorwürfe brachen sich Bahn. Ich für meinen Teil erklärte, daß mir Debord absolut untadelig
erschien. Mehr nicht. Doch dann habe ich feststellen müssen, daß es nichts schlimmeres gibt als Untadeligkeit.
Für kleine Gruppierungen - und ,,Sozialismus oder Barbarei” war ein Grüppchen, obwohl der Geist noch wehte zu jener Zeit - bedeuten Austritte und Spaltungen echte Scheidungen, wo jede Seite das Bedürfnis hat,
in der anderen das absolut Böse zu sehen. Die beiden Fraktionen - der Aussteiger und die Organisation - beschuldigen sich gegenseitig aller Sünden der Welt. Es sei denn, der Aussteiger geht mit gesenktem Haupt
davon. Dann gewährt man ihm im besten Falle Nachsicht und Erbarmen. ,,Ein Mann über Bord - der Kampf geht weiter!” Aber das geht nur, wenn bei den Hinterbliebenen Konsens besteht, der Aussteiger bewege sich
auf ein bedauerliches Schicksal hin. Anderenfalls gibt es zur Versündbockung des Abtrünnigen aus Gründen der Selbsterhaltung keine Alternative, ist dies der notwendige Prozeß, das eigene Bild zu erhalten. Die
Position Debords, der sein Haupt ganz und gar nicht einzog und auch nicht das geringste Anzeichen von Aggressivität zeigte, frustrierte die Gruppe in ihrer Therapie.
Er ging und hinterließ Viren in den Programmen der Revolutionäre. Sein Verhalten stellte die Frage nach den Illusionen, die wir vielleicht mit uns herumtrugen: etwa nach der revolutionären Moral, also die Frage des
Verhältnisses des Aktivisten zum Proletariat einerseits und zu den Arbeitern andererseits. Die Gruppe reagierte mit einer immer ausgefeilteren und umfassenderen Zensur, mit einer totalen Verdrängung. Nach einer
gewissen Zeit der Irritation - in diese fiel der Versuch Richard Dabrowskys, eine ,,situationistische Strömung” zu erwecken, was Debord einfach übersah - kehrte alles zur gewohnten Ordnung zurück. Bald sollten
Debord und die Situationistische Internationale aufhören zu existieren, so als hätte es sie nie gegeben und würde sie auch nie geben können. Von all dem findet man übrigens in der Zeitschrift der Gruppe keine Spur.
Ende der Vorstellung.
Dieser blinde Fleck und die strukturelle, angeborene Unfähigkeit, ihn zu sehen, das Phänomen also analysieren zu können, zogen die Entartung von ,,Sozialismus oder Barbarei” nach sich, die von Internationale Situationniste vorausgesehen,
angekündigt und dann (Nr. 9, S.18) festgestellt wurde, wobei sie gleichzeitig zum Erben dessen wurde, was Socialisme ou Barbarie an Gutem zustande gebracht hatte. Diese Ereignisse und die Lage der Dinge
sollten mir jedenfalls genügend Stoff zum Nachdenken geben. Debord hatte mit seinem Weggang eine Lawine ins Rutschen gebracht, die die Gruppe hinab reißen sollte. Was nicht heißt, daß er dafür verantwortlich gemacht
werden könnte: Alle Schuld, die man ihm zuschrieb, ist Dichtung. In der Zeit nach 1960 hatte sich der Einfluß der ,,sozial-barbarischen” Theorien und Analysen durchaus weiter verbreitet, waren im Kontakt mit
der Arbeiterbewegung neue Strategien entwickelt worden: All das schlug sich auch in den Publikationen der Situationisten nieder. Durch die Aufnahme dieser Denkansätze war Internationale Situationniste meines
Erachtens reicher geworden, hatte sie an Attraktivität gewonnen, was sich auch in einer größeren Leserschaft niederschlug.
Das Verhalten der Gruppe also, soweit es jenem ,,blinden Fleck”, jenem ,,toten Winkel” galt - womit unser aller Fähigkeit zur Analyse mit einem Male nichts taugen sollte - irritierte mich. Es stellte sich
die Frage nach der Substanz, nach dem uns Verbindendem. Ich sprach mit Debord über meine Ratlosigkeit. Die ungeheuerlichsten Verleumdungen, die mich Debord betreffend erreichten, fielen bei mir ohnehin auf keinen
fruchtbaren Boden; dafür brachte mich die anhaltende freundschaftliche Beziehung zu ihm selbst in den Verdacht schlimmster Absichten, aller Aktivitäten, allen Einsatzes und aller Treue zu Zielen und Taten der Gruppe
ungeachtet.
Ich sagte Debord, daß ich entschlossen sei, bei ,,Sozialismus oder Barbarei” zu bleiben, weil dies - im Gegensatz zur Situationistischen Internationale - der Rahmen sei, der meinen Möglichkeiten entsprach und
ich hier noch viel zu lernen hätte. Da es bei uns üblich war, gegen die Universität, gegen alles, was mit Studium zu tun hatte, herzuziehen, hatte er mir geantwortet: ,,Na klar... dir wird man am wenigsten vorwerfen
können, zu studieren, wenn du ,Sozialismus oder Barbarei‘ zur Universität gewählt hast!” Das hatte mich getroffen, denn vor einiger Zeit hatte Lyotard, der auch Professor an der Sorbonne war, als er
mitbekam, daß ich jederzeit und bei allem dabei war, Übungen und Vorlesungen aber eher leichtnahm, bemerkt: ,,Du beziehst bei den politischen Wissenschaften ein Stipendium, aber zu studieren scheinst Du bei
,Sozialismus oder Barbarei‘.” Ich hatte Debord etwas aus den Augen verloren, bis ich Ende 1962 in die Rue Rollin, in der Nähe der Contrescarpe, umzog und ihn dort im Viertel und im Café ,,Cinq
Billards” regelmäßig traf. Bei ,,Sozialismus oder Barbarei” ging es in diesen Jahren 1963-64 um Auseinandersetzungen zwischen Chaulieu-Cardan-Castoriadis‘ ,,Strömung” auf der einen, und
,,Arbeitermacht” mit Lyotard, Brune (alias Souyri), Véga und der Mehrheit der Gruppe - den ,,Traditionalisten” oder ,,Steinzeitmarxisten”, wie Castoriadis sie nannte - auf der anderen Seite.
Auseinandersetzungen, die zu einer Spaltung führten. Dazu kam am 15. Februar 1963 meine erste Tochter zur Welt. Da der Posten eines Internatsaufsehers nicht mehr genug zum Leben einbrachte, begann ich als Bürokraft
bei einer Immobilienfirma zu arbeiten. Ich engagierte mich immer noch bei der ,,Arbeitermacht”, die, einige Jahre später, das gleiche Schicksal wie zuvor ,,Sozialismus oder Barbarei” erleiden sollte:
Gleiche Ursachen bringen gleiche Wirkungen hervor.
Die Ausgaben 8, 9 und 10 scheinen mir übrigens genau die Lage der Situationistischen Internationale, d.h. im wesentlichen, davon bin ich überzeugt, Guy Debords und unsere gemeinsame Entwicklung widerzuspiegeln. Der
theoretische Aufwand war beachtlich. Davon abgesehen weiß ich immer noch nicht, wie ich diese Zeit beurteilen soll: Die Bewertung unserer Absichten, unserer Irrtümer und unserer Illusionen kann nur im Lichte des Mai
68 und seiner Folgen gesehen werden. Doch da diese Partie noch nicht ganz beendet ist und etliche Vorhaben, die sich in Art und Größe der Enttäuschung, die sie uns bescherten, unterscheiden, noch in Reichweite
liegen, verbleiben mehrere entscheidende Kriterien der Beurteilung in der Schwebe.
Ein wenig vorzugreifen, will ich darauf hinweisen, daß sich die Arbeit bei La Vieille Taupe 1968 von dem Herangehen der Situationisten insofern unterschied, als ich die Räte-Illusionen, die namentlich von
,,Sozialismus oder Barbarei” herstammten und die ich früher geteilt hatte, 1967 zu kritisieren begann, als ich das Werk Bordigas und der ,,Italienischen kommunistischen Linken” entdeckte, das ich bis
dahin wie Debord im übrigen nur aus grob verfälschten Darstellungen kannte, die davon in Socialisme ou Barbarie gegeben wurden, bzw. von dem, was wir von Chaulieu-Cardan-Castoriadis und Véga (er selbst ein
,,Bordigiste”) erfuhren. Nicht daß sich La Vieille Taupe den Analysen Bordigas angeschlossen hätte - weit gefehlt-, doch die Kenntnis der Analysen der kommunistischen Linken hatte uns die Augen in bezug auf
bestimmte Realitäten der sozialistischen Bewegung geöffnet, die uns zuvor entgangen waren. Mustafa Khayati, der einzige Situationist, der 1968 streckenweise etwas von der Arbeit bei La Vieille Taupe mitbekommen
hatte, war der Meinung, wir seien realistischer und tiefergehender als die Situationisten. Dieser Unterschied in Theorie und Praxis wird La Vieille Taupe hoffentlich vor der Schande bewahren, mit den 68er und
Post-68er Studenten in einen Topf geworfen zu werden, worauf die Situationistische Internationale nur bedingt hoffen kann. Man sollte sich übrigens von unserer Verstandesschärfe keine übertriebenen Vorstellungen
machen. Wir haben vieles richtig gesehen; aber wahr ist auch, daß ich noch 1972, als die erste Buchhandlung ,,La Vieille Taupe” schließen mußte, davon überzeugt war, daß unser Abgang mit einem unmittelbar
bevorstehenden proletarischen Erwachen verbunden wäre, wie es auch unser Plakat ,,zu vermieten wegen Veränderung des Himmels und der Erde” bezeugt, mit dem ich der Existenz der Buchhandlung ein Ende bereitete.
Jahre zuvor, Ende 1964, Anfang 1965, als das Projekt einer Buchhandlung entworfen wurde - und ich schon von Problemen überhäuft und natürlich ohne einen Sous in der Tasche -, war Guy Debord so ziemlich der einzige,
der den Sinn des Vorhabens verstand und es unterstützte. Gemeinsam haben wir den Namen ,,La Vieille Taupe” und die Auswahl der Bücher beraten. Wir haben die Schaufenstergestaltung diskutiert und beschlossen,
weder Sartre, noch Althusser, noch Simone de Basar anzubieten - es sei denn als ,,Dokument” aus dem Mülleimer. Gemeinsam mit Guy Debord habe ich die Herausgabe der Feuerbach-Thesen in Plakatform beschlossen.
Die Situationisten übrigens waren bei der Eröffnung der Buchhandlung dann zwecks Klebe-Aktion zur Stelle. Sie waren natürlich auch bei der Eröffnung anwesend und trafen dabei auf Mitglieder der
,,Arbeitermacht”, die sich gerade von ,,Sozialismus oder Barbarei” getrennt hatten. Eine gemeinsame kritische Betrachtung dessen, was aus ,,Sozialismus oder Barbarei” geworden war, ließ einander
näher rücken. Véga hatte Guy Debord begrüßt und ihn mit einem breiten Lächeln gefragt: ,,Waren wir noch mal verstritten oder nicht?... Oder sollten wir es etwa sein?” Debord zeigte sich ebenfalls von seiner
besten Seite, gab ihm die Hand, und beide setzten sich ins Hinterzimmer. Aber in die Buchhandlung ist Véga meines Wissens nicht mehr gekommen und es sollte nicht mehr lange dauern, daß er anfing, Haare in unserer
Suppe zu suchen, was dann bereits zum endgültigen Zusammenbruch der Gruppe ,,Arbeitermacht” gehörte.
Als zum ersten Mal ein Brandsatz durch das Schaufenster der Buchhandlung flog, waren es wieder Guy Debord und Michèle Bernstein, mit denen ich die angemessene Reaktion jenseits aller pseudoliberalen Heulerei besprach
- wobei der Gesichtspunkt im Vordergrund stand, mit einem Maximum an Werbung für die Bücher abzuschneiden, die den Stalinisten, den wahrscheinlichen Angreifern, am meisten mißfielen. Der Polizeikommissar des
Viertels hatte mich vorgeladen: ,,Sie suchen doch Probleme, Sie schaffen die doch selbst!” Ich hatte große Schwierigkeiten, ihm zu erklären, daß, wenn wir zeigten, daß die Angreifer uns nicht einschüchtern
könnten, dies das beste Mittel sei, daß sie nicht wiederkämen.
Im folgenden Jahr kam es mit Guy Debord zu einer engen Zusammenarbeit. Ich sah auch Alice Becker-Ho und René Viénet, deren situationistische Beiträge ich übrigens kaum noch wiedererkannte. Vor allem für Viénet
schien, Situationnist zu sein, inzwischen eine Tugend schlechthin zu bedeuten. Ich meinte, daß dies im Gegensatz zu den Ideen stand, die wir mit Guy Debord diskutiert hatten; jedenfalls kam eine seltsame Art von
,,Hast du mich gelesen? Hast Du mich gesehen?” ins Spiel.
Debords Einfluß schlug sich u. a. in Nummer 10 der Zeitschrift, derselben, die eine entschiedene Kritik von ,,Sozialismus oder Barbarei” enthielt, in der folgender Anzeige nieder:
Auf Debords Anregung geht die Unterdrückung des ,,St.” in der Anschrift zurück: In allen La Vieille Taupe betreffenden Dokumenten wurden aus dem Heiligen Jakob der Bürger, bzw. Kamerad und Genosse Jakob, also
,,Jacques” statt ,,Saint Jacques”. Debord hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß das Wort ,,Heiliger” während der französischen Revolution aus der steinernen Tafel an der Ecke der Straße
herausgemeißelt worden war. Aber auch Lenin zogen wir zur Begründung heran, der in Paris diskutierenderweise spazieren gegangen war und bezüglich Notre –Dame einem Gesprächspartner auf der Ile de la Cité
gesagt haben soll: ,,Deren Dame von Paris”. Also eine ziemlich müßige Problemstellung, aber das nannte sich damals die Theorie in Praxis umsetzen, die Praxis aber in Theorie verwandeln, bis in die
Einzelheiten und ohne Kompromiß...
Was die Schreibweise betrifft, so bin ich inzwischen in die Bahnen des Üblichen, bzw. der Überlieferung zurückgekehrt. Inzwischen meine ich, daß eine Revolution nur dann tiefgreifend und dauerhaft sein, nur dann vom
Volk angenommen und durchgeführt werden kann, wenn sie aus der Geschichte des Volkes erwächst und sich in diese einschreibt.
Die französische Revolution ist eine bürgerliche Revolution gewesen. Es mag verwunderlich klingen, aber es ist wahr: Unter dem Ancien Régime gab es mehr Kommunismus als unter Robespierre. Die Herrschaft
der Ideologie bewirkt eine tiefere und mörderischere Entfremdung als die Religion. In diesem Sinne ist eine noch durchzuführende Revolution ohne Vorläufer. Die bisherigen bürgerlichen und bolschewistischen
Revolutionen können lediglich als Beispiel für die Verschleuderung proletarischer Energie dienen.
Obgleich es also eine gewisse Zusammenarbeit zwischen La Vieille Taupe, Debord und anderen im Umkreis der Buchandlung gab, so blieb die alleinige Verantwortung für die Finanzierung doch bei mir, was äußerst schwierig
war. Nur den Betrieb der Buchhandlung aufrechtzuerhalten, brachte große Probleme mit sich, die mir ein Leben voller Sorgen bescherten, das nicht gerade im Einklang mit den eher hedonistischen Prinzipien der
Situationisten stand. Ich war übrigens der einzige, der ein Kind hatte; so weit ich weiß, hat keiner der Situationisten ein Kind. Guy Debord verfügte über das Talent, sich von jeglichen Schwierigkeiten fernzuhalten
und die Dinge mit Abstand und Ironie zu beobachten. Ich beneidete ihn um dieses Talent. Doch konnte ich nicht akzeptieren, daß man das zur Norm erhob – was Guy Debord auch nicht tat, bestimmte Situationisten
aber, wie mir schien, sehr wohl. Eines Tages, als ich sanftmütig den Kinderwagen mit meiner Tochter durch die Rue Clotaire schob, hatte er zu mir gesagt: ,,Ein Foto für die nächste Ausgabe: Das bringen wir neben dem
Schlächter aus Jütland und dem Vampir von Düsseldorf.” Meine Übereinstimmung mit Guy Debord in den Themen, die wir erörterten, war total, doch empfand ich den Situationisten gegenüber eine Andersartigkeit, die
ich nicht erklären konnte.
Guy Debord legte in seiner Einschätzung der Leute einen außergewöhnlichen Scharfsinn an den Tag. Er wußte aus der kleinsten Einzelheit Schlüsse zu ziehen, die es ihm erlaubten, jedem sein unabwendbares Schicksal zu
bestimmen. Mir ging das oft zu schnell; ich meinte, gründlicher sein zu sollen. Auch unkritischer in gewisser Weise, z.B. auf Ansprüche an andere verzichten zu müssen. Ich war entschlossen, die Leute so zu
akzeptieren, wie sie waren. Und ich zählte ihm mehrere Beispiele von Fällen auf, wo ich in diesen oder jenen nicht die gleichen Hoffnungen wie er gesetzt habe. Die Gebrüder Georges waren das offenkundigste Beispiel.
Gleich nach meinem zweiten Treffen mit ihnen im ,,Cinq Billards”, wo er sie mir vorgestellt hat, sagte ich ihm, was ich von ihnen hielte: ,,Degenerierte Großbürger, die sich austoben und gleichzeitig nach
einer nutzbringenden Philosophie Ausschau halten. Man wird sehen.”
Der Artikel, den er ihnen gewidmet hat (,,Sur deux livres et leurs auteurs”, Internationale Situationniste Nr. 10, S. 70/71), als auch der unmittelbar vorausgehende Artikel (,,L‘idéologie du
dialogue”), spiegelt unter anderem die Gespräche wider, die wir miteinander geführt hatten. Ich gab ihm weitere Beispiele aus früheren Zeiten, wo ich scharfblickender als er gewesen war (Kotányi, Jorn), und
Beispiele aus der Gegenwart: Leute, die auf seine Fürsprache hin in die Situationistische Internationale gekommen waren, und die ich wegen des Prinzips ,,keine Verurteilung ohne Gesetz” zu tolerieren hatte
(Frey, Garnault, et alli...).
Eine andere Frage aber, die mich quälte, die letztendlich alle Mitglieder der Gruppe außer Debord selbst berührte, habe ich niemals angesprochen: Sie alle schienen mir Kleider zu tragen, die zu groß für
sie waren, die nur für Debord geschneidert waren. Michèle Bernstein beispielsweise, immer liebenswürdig, voller Witz, Intelligenz und Gefühl – also viel kultivierter als ich –, sie kam mir absolut nicht
revolutionär vor; jedenfalls nicht in dem Sinne, wie ich ,,revolutionär” verstand. Genauso Alice und auf eine andere Art Viénet. Es schien ihnen Spaß zu machen, zu streiten, sich auseinander- und
durchzusetzen. Und das taten sie mit einem gewissen Talent. Sie suchten Bestätigung. Aber es war zu vermuten, daß sie ihren Einsatz beenden würden, wenn diese nicht mehr dabei herauskäme. Selbst bei Debord war es
wahrscheinlich in gewisser Weise so. Was unter Umständen bereits mit der situationistischen Ethik zusammenhing. Das empfand ich damals rein gefühlsmäßig: Ich war nicht in der Lage, meine Kritik zu formulieren
und vorzutragen. Um so weniger als die Situationisten und Viénet in ihrer Kritik an mir – unseren damaligen Kriterien entsprechend – alles andere als unrecht hatten.
Nebenbei schlug ich mich mit verzwickten finanziellen und familiären Problemen herum. Ich erwähne sie, weil sie in den Kontext meiner Beziehung zu Guy Debord und den Situationisten während der kurzen Zeit, als sich
diese Beziehung verschlechterte und dann zu Ende ging, gehören. Denn unsere Beziehung ist beendet worden, ohne daß es auch nur zur geringsten theoretischen, politischen oder existenziellen Meinungsverschiedenheit,
über die sich Guy Debord oder irgendein Situationist jemaIs geäußert hätte, gekommen ist.
Mein letztes Treffen mit Guy Debord und René Viénet fand in der Gegenwart von Anne Vanderlove um 10.00 Uhr abends in der Buchhandlung unter – wie zu Beginn dieses Aufsatzes beschrieben – pirandellesken
Umständen statt, für die ein größenwahnsinniger Angeber, Betrüger, Lügner und Kleptomane gesorgt hatte, die in keinem Zusammenhang mit den Aktivitäten und Beschäftigungen standen, die uns einst zusammengeführt
hatten.
Daß ich, selbst wenn alles bestens liefe – wovon ich weit entfemt war –, keine ,,revolutionäre Buchhandlung”, und schon gar keine ,,situationistische Buchhandlung” betreiben wolle, wußte
Debord. Ich hatte ihn darauf hingewiesen – nicht ohne die Position in Anspruch zu nehmen, die seitens der SI die künstlerischen Produktionen ihrer Mitglieder betreffend ausgegeben wurde (IS, Nr.7, S.
27). Und reklamiert, daß die Buchhandlung – die bereits Hauptumschlagplatz von SI-Büchern war – als Kunstwerk, als künstlerisches Ereignis zu begreifen und als ,,anti-situationistisch” zu erklären
sei; alles für den Fall, daß diese sich überhaupt würde halten können. Mehrere Situationisten reagierten mit Bestürzung, und Debord hatte den Hegel‘schen Sinn dieser Rede erklären müssen: Die Materialisierung
der Idee sei zugleich ihre Entäußerung, ihre Entfremdung. Sie liefere selbst den Grund ihrer Überholung. Das wäre übrigens ein hervorragendes Mittel gewesen, der Öffentlichkeit die Natur unseres Anti-Situationismus
erklären zu können und hätte die Gegner der SI vermutlich zu erfrischenden linguistischen Entgleisungen gebracht.
Das Unverständnis schmerzte mich: Ich konnte mit dieser Moral, die einen immer stark und in der Pose des Siegers der Geschichte sehen wollte, nichts anfangen. Ich habe schließlich meine Probleme allein gelöst. Auch
ich war gewiß nicht von einer gewissen ,,Arbeiterklassen”-Metaphysik frei. Aber wahrscheinlich habe ich die Revolution auch früher eher als eine moralische und sogar ästhetische Forderung denn als konkrete
Handlungsalternative verstanden. Von einer wirklichen organischen Verbindung mit der Arbeiterklasse konnte keine Rede sein.
Meine Beziehung zu den Situationisten und Debord blieb noch über mehrere Monate nach dieser denkwürdigen Tagung in der Rue Quincampoix bestehen. In der Buchhandlung sind nach wie vor die situationistischen Schriften
verkauft worden. Die Tatsache allein, die Einladung der Situationisten abgelehnt zu haben, konnte mir keinesfalls angelastet werden, gehörte doch die Autonomie – die ich auf diese Weise bewiesen hatte –
zu den Werten der Situationisten. Gleichwohl hatte ich den Eindruck, daß man mich verdächtigte, daß ich zum Objekt der heimlichen Beobachtung, der Observierung geworden war; auch wollte man wohl abwarten, wie ich
mit meinen Problemen fertigwerden würde.
Dann kam es zu einer Reihung seltsamer Zufälle; die Dinge entwickelten sich auf eine offensichtlich absurde Weise; was mir gleichwohl stets als Manifestierung ihrer Notwendigkeit erschien. Ende Mai oder Anfang Juni
1966 kam Viénet und holte, ohne einen Kommentar meiner- und seinerseits, den Lagerbestand der situationistischen Bücher ab, ordentlich abgetragen durch die Verbreitung, für die ich gesorgt hatte, ohne von mir den
Betrag für die Verkäufe zu verlangen. Dieser Bestand ist in der Buchhandlung ,,Librairie du Savoir” in der Rue Male-branche im 5. Arrondissment bei einem Buchhändler zur Lagerung gebracht worden, der eher ein
Kellner als ein Buchhändler war und – in einer Entfernung von weniger als fünfzig Meter von La Vieille Taupe – eine Art Laden speziell zur Verramschung betrieb. Was mir nicht gerade Freude bereitete.
Diese Buchhandlung gibt es heute noch. Aus ihr ist die rumänische Buchhandlung von Paris geworden, nachdem sie, schon lange vor dem Fall Ceaucescus, die Buchhandlung der rumänischen Dissidenten geworden war. Als
solche kann sie eine reiche Erfahrung im Kampf gegen die Zensur und dem Totalitarismus ihr eigen nennen.
An Unternehmungen, die gegen die SI gerichtet waren, habe ich mich auch später nicht beteiligt, unabhängig davon, wie oft ich dazu eingeladen wurde: Ich habe schlicht nichts gehört, was begründet gewesen wäre. Im
Gegenteil, ich habe – trotz aller Kritik im grundsätzlichen, die auf das Verständnis der historischen Periode abhebt und auch selbstkritisch ausfallen müßte – meine unverändert positive Meinung, was die
SI und ihre Veröffentlichungen betraf, ungeachtet des Endes der unmittelbaren Beziehung zwischen der SI und La Vieille Taupe auch ausgesprochen. Und zögerte daher nicht, die folgende kurze Mitteilung, die in Nr.11
der IS im Oktober 1967 erschien, sowohl an der Tür als auch im Inneren der Buchhandlung anzubringen:
Das Elend einer Buchhandlung
Wir haben es für erforderlich gehalten, unsere Publikationen aus der Buchhandlung ,,La Vieille Taupe” zurückzuziehen. Der revolutionäre Ehrgeiz Ihres Eigentümers ist zu groß, um als neutraler
Buchhändler gegenüber den Schriften, die er auslegt, gelten zu können, während er als revolutionärer Buchhändler wiederum – die dauerhafte Anwesenheit, das unaufhörliche Geschwätz von Idioten aller Art bis hin
zu den Maoisten gestattend – sich als zu weich erwiesen hat.
Zu bemerken wäre hierzu noch, daß die Formulierung ,,haben ... gehalten” eine gewisse Reserve einschließt, so als ob der Autor/Akteur sich seiner Sache nicht vollkommen sicher ist und der korrigierenden Kritik
einen Eingang, sich selbst aber einen Ausgang offenhält. Der folgende Aufsatz dann – der im übrigen nichts enthält, was ich, zu dieser oder jener Zeit, nicht selbst Debord gesagt hätte – beginnt dann mit
den Worten ,,Zu einer ernsteren Sache”. Was die Anwesenheit von Idioten angeht, so möge man mir verraten, was ein Ladeninhaber dagegen unternehmen könne. Auch ohne die Sorgen, die mich quälten, und ohne die
damit verbundene psychische Erschöpfung, hätte ich das kaum verhindern können. Was den angeblichen Maoisten anbelangt, den Viénet bei mir erspäht hatte, so handelte es sich um Americo, der soeben aus Mozambique kam
und die Buchhandlung entdeckt hatte. Er hörte so gründlich auf, Maoist zu sein, daß er ein guter Freund wurde, bevor er eine Arbeit an der Uni annahm – was wieder einmal zeigt, daß die Revolution, um mit
Trotzki zu sprechen, Menschen und Charaktere frißt.
Schließlich stelle ich fest, daß die Liste von der IS beschimpfter Personen, Organisationen und Institutionen – später von Raspaud in der Edition Champ Libre veröffentlicht – weder La
Vieille Taupe noch Pierre Guillaume enthält. Es gibt meines Wissens keinen Text, in dem Guy Debord oder ein Situationist jemals La Vieille Taupe kritisiert hätte – weder vor, noch während, noch nach dem Mai
68. Was die Umstände angeht, die den Abbruch meiner Beziehung zu Guy Debord auslösten, wüßte ich nicht, daß weder er selbst, noch irgendein anderer Situationist sich jemals öffentlich darüber geäußert hätte. Ich
werde also nicht mehr dazu sagen, als ich darüber weiß. Die Situationistische Internationale gibt es nicht mehr. Ich glaube eine der sehr wenigen Personen zu sein, die förmlich zur Teilnahme an der SI eingeladen
wurden und diese Einladung ausgeschlagen haben.
Um absolut vollständig zu sein: 1970 oder 1971 kam Gérard Lébovici in Begleitung von Gérard Guéguan in die Buchhandlung ,,La Vieille Taupe” in der Rue Fossés (St.) Jacques. Dieser wollte jenen davon überzeugen,
einen Verlag mit einem neuen verlegerischen Konzept ins Leben zu rufen, d.h. zu finanzieren. Ich weiß nicht, was Guéguan ihm gesagt hat. Aber Lébovici wollte mich treffen und mit mir die Machbarkeit der Sache zu
besprechen, d.h. mein Urteil bezüglich des Vorhandenseins eines Marktes für die Art Publikation, die er vorhatte, einholen. Er blieb fast eine Stunde, und wie es scheint, war es unsere Unterhaltung, die ihn zur
Entscheidung brachte, ans Werk zu gehen und die Édition Champ Libre zu gründen. Kurze Zeit darauf beschloß ich, La Vieille Taupe zu schließen; das war 1972. Und faßte die Veröffentlichung eines Buches über die
Buchhandlung und die mit ihr verbundenen Leute bei Champ Libre ins Auge. Erfuhr dann gerüchtehalber, daß Guy Debord mit Champ Libre in Kontakt stand. Diese Umstände bewogen mich, ihm einen kurzen Brief zu schreiben,
in dem ich ein Treffen vorschlug. Der Brief blieb ohne Antwort.
Als ich die vorliegende Zeitschrift vorbereitete, hatte ich unter anderem an eine Besprechung, an eine Kritik Debords letzten Buches gedacht. Wenig später erfuhr ich, daß er sich das Leben genommen hat. Eine Freundin
sandte mir einen aus dem Figaro ausgeschnittenen Artikel, den Nachruf seines Freundes Ricardo Paseyro. Er bestätigte, was ich gedacht hatte: ,,Seit langem vorbereitet, birgt sein Freitod kein Geheimnis: Guy
Debord sprach der Krankheit das Recht ab, seine Unabhängigkeit zu rauben. Er war kein mysteriöser Mensch: Er war ein seltenes Wesen, das sich weder zähmen, noch zwingen, noch manipulieren ließ. Er gab für niemanden
seine Freiheit auf – nicht für das Leben, das er liebte, und auch nicht für den Tod, den er beherrschte.”
Ich habe nie gedacht, daß es sich um einen Freitod aus Verzweiflung handeln könne. Ein Freitod im Sinne der Stoa aber meine ich, begangen in dem Moment, da der Verfall der Gesundheit deutlich und unumkehrbar war, lag
in der Logik des Lebens, so wie er es leben wollte.
Ich habe mir unsere Treffen in der Contrescarpe in Erinnerung gerufen. Und seine unnachahmliche Art, vom Tisch aufzustehen, wenn die Unterhaltung an Spannung verlor, oder besser: zu verlieren drohte. Ohne Übergang
verabschiedete er sich von der anwesenden Gesellschaft, zahlte fast immer für alle und entschwand schlagartig. Und die Gäste fühlten sich nach Hause geschickt: Unglückliche Gäste!
Der Marxismus kennt weder ,,Unsterbliche” noch Tote. Denn mit jenen, die von unwissenden Mündern so bezeichnet werden, spricht das Leben. Bordiga, Dialog mit den Toten
Die Gewalt der Leidenschaften, die Guy Debord geweckt hat, und die Streitsucht der eitlen Schriften, die ihn angriffen, haben mich immer verblüfft. In allen Fällen, bei denen ich Zeuge war, und von allen, die mir zu
Ohren gekommen sind, kenne ich kein Beispiel, wo Guy Debord nicht vollständig recht gehabt hätte! Ich bin also geneigt, dies auch für all die Diskussionen anzunehmen, in denen ich nicht über genügend Informationen
verfüge, unter Vorbehalt näherer Prüfung selbstverständlich.
Das Schweigen Debords und der Situationistischen Internationale, was mich und die La Vieille Taupe betrifft, bestätigte mir gleichsam, daß die SI niemanden ohne Grund angriff um ihre eigenen Probleme vor sich
verstecken zu können, und daß die SI keinen Grund hatte, mich anzugreifen. Ich habe im übrigen niemals Vorwürfe Debords oder der SI befürchtet. Wenn sie berechtigt gewesen, hätte ich sie bedacht, wenn sie
unberechtigt gewesen wären, hätten sie den toten Winkel Debords, seinen blinden Punkt zum Vorschein treten lassen, das Ende seiner Vorstellungskraft; was zum Hinwegschreiten, zur Überwindung durch andere hätte
führen müssen.
Dieses Schweigen bis 1979 könnten die Feinde von La Vieille Taupe versucht sein, sich als das Ergebnis von Milde gegenüber einer quantité négligeable zu erklären, wenn man das jeweilige Kräfteverhältnis seit
September 1967 berücksichtigt. Oder sogar als ein Zeichen der Gleichgültigkeit, wenn nicht gar der Verachtung. Das ist sehr gut möglich. Es stimmt, daß La Vieille Taupe seinerzeit kein großes Aufsehen erregt hat.
Was sich mit der Publikation der Arbeiten Robert Faurissons und Paul Rassiniers änderte.
Debords seltsames Schweigen seither galt nicht nur La Vieille Taupe, sondern ebenso der gesamten Affäre, deren negative Präsenz die Medien und die ganze Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts
beherrscht hat. Denn diese betrifft das Ereignis, von dem man uns sagt, es hätte die Geschichte dieses Jahrhunderts bestimmt, indem es das Gründungsereignis der ,,postmodernen” Gesellschaft, in der wir leben,
sei: Auschwitz und die Gaskammern.
Debords Schweigens kann also nicht mit Unkenntnis erklärt werden; das ist ausgeschlossen. Er hatte in seinem unmittelbaren Umfeld etliche mehr oder weniger konsequente Revisionisten. Darüber hinaus bin ich, als die
Affäre Faurisson – unabhängig von La Vieille Taupe – in den Medien ausbrach, mich auf unser damaliges Treffen bei der Gründung von Champ Libre berufend, zu Lébovici in seinem riesigen Büro in der Rue
Marbeuf gegangen, um ihm eine Neuauflage von ,,Le Mensonge d‘Ulysse” des antifaschistischen Widerstandskämpfers und Buchenwaldhäftlings Paul Rassinier vorzuschlagen. Er wußte von dem Werk, das
er für erdichtet und überholt ansah, doch hatte es nicht gelesen. Und hielt bestimmte Verleumdungen, die über Rassinier in Umlauf waren, für glaubwürdig. Aber er war meinen Erklärungen gegenüber empfänglich. Ich
hoffte zu dieser Zeit, durch diese Veröffentlichung bei Champ Libre ein wenig Nachdenken und Besinnung in die unvermeidlich gewordene Diskussion zu bringen. Bei unserer Unterhaltung saß neben seinem luxuriösen
Schreibtisch eine Person mit grauem Haar, vor der ich frei sprechen solle, und die ich erst viel später identifiziert habe, als ich ihr Bild in irgendeinem Medium sah. Es war Jorge Semprun, der während unseres
Gespräches kein Wort sagte. Ich überließ Lébovici eine Kopie von ,,Le Mensonge d‘Ulysse” und einige Dokumente, die er gelesen hat. Später habe ich erfahren, daß der spanische Weltbürger alle in
seiner Macht stehenden Mittel eingesetzt hat – zu allererst die Lüge –, um Lébovici von der Realisierung dieser Ausgabe, die er tatsächlich in Angriff genommen hatte, abzubringen. Drei Jahre später kam
bei Grasset ,,Quel beau dimanche” von Jorge Semprun heraus, in dem der spanische Ehrenburg dem breiten Publikum ad usum Delphini auf eine süßliche, verharmlosende Weise das ,,enthüllte”, was
Rassinier über das interne Lagerleben und die Rolle der von Moskau Fremdgesteuerten geschrieben hatte und was nicht länger völlig ignoriert werden konnte. Auf dieses Buch hin sandte La Vieille Taupe einem
von Maurice Nadeau geleitetem literarischen Magazin, das eine Besprechung von diesem Buch gebracht hatte, einen Brief. Diesen in der Ablage vergrabenen Brief werden wir, wenn die Zeit dafür gekommen sein wird, mit
Sicherheit wieder hervorholen. Zwischenzeitlich hatte Lébovici mich wissen lassen, daß es ihm nicht möglich sei, die Veröffentlichung von ,,Le Mensonge d‘Ulysse” bei Champ Libre vorzunehmen. Ich habe es
dann, bei dieser Gelegenheit La Vieille Taupe neugründend, und zwar in Form eines Verlages und unter weitaus schwierigeren Umständen als seinerzeit vor Eröffnung der ersten Buchhandlung, selbst neu verlegt. ,,Le
Mensonge d‘Ulysse” konnte unter diesen Umständen keine große Öffentlichkeit erreichen. Dafür war sein medialer Ersatz lanciert: und die grenzenlos preisgekrönte Karriere Sempruns als Deportierter und
reuevoller Ex-Stalinist begann.
Bis 1985 bin ich davon ausgegangen, daß Guy Debord auf seine Stunde warten würde. Von allen Personen, mit denen ich mein Leben geteilt habe, ist Guy Debord der absolut einzige, bei dem es mir geschehen ist, daß ich
bedauere, auf Ansichten und Ratschläge, auch und vor allem, wenn ich diese als Angriff empfinden mußte, nicht gehört zu haben. Aber so ist es. Ich habe nie daran gezweifelt, ihn hinreichend informiert zu finden, und
nie angenommen, er sei unfähig geworden, dialektisch die diese Affäre betreffenden medialen “Informationen” zu entschlüsseln. Ich habe mich also jeglicher Initiative enthalten, ihm direkt Informationen
zukommen zu lassen oder ihn um seinen Einsatz in dieser Sache zu bitten. Als die ,,Commentaires sur la Société du spectacle” im Verlag Gérard Lébovicis erschienen, habe ich keine Sekunde daran gezweifelt, daß
die Stunde gekommen sei, daß Guy Debord das Gespür für die Lage entwickelt habe – auch für die Notwendigkeit, vorläufig noch seine Gedanken zu verschleiern, worauf er übrigens am Anfang des Textes ausdrücklich
verweist.
Ich habe dann Auszüge aus diesem Text in der Nummer 5 der Annales d‘Histoire Révisionniste veröffentlicht. Ich war der Meinung, daß die ,,Commentaires...” – auch aus dem Denken Debords heraus
betrachtet – mit weiteren Erklärungen, ohne die der Text sinnlos bliebe, fortgesetzt werden müßten. Die Veröffentlichung gerade dieser Auszüge in den Annales schien mir zu dieser Erklärung beizutragen.
Diese Veröffentlichung schien mir jedenfalls entweder eine Zustimmung, die sich vorläufig mit einem komplizenhaften Schweigen zufriedengeben konnte, oder ein klares Dementi seinerseits – was es nicht gab
– wert zu sein.
Ohne die Hypothese einer stillschweigenden Bezugnahme auf die Diskussion um Faurisson, bzw. um das Recht auf freie Forschung zu Auschwitz jedenfalls, scheint mir der Inhalt der von mir veröffentlichten Auszüge nicht
erklärbar. Die totalitäre Welt, die dieser Text beschreibt, wäre außerhalb des konkreten Beispiels durch die sogenannten Auschwitzlügengesetze eine paranoide Übertreibung. Es gibt keinen einzigen Satz in diesem Text
Debords, der nicht ganz und gar konkret durch das Schicksal der Revisionisten und, nach dem Los zu urteilen, das ihnen bereitet wird, einzig von ihnen illustriert werden könnte.
Allerdings muß erwähnt werden, daß mir gleichwohl von Seiten Debords keinerlei Bestätigung, Anerkennung oder Kommentar dieser Hypothese zuging. Nur ein im Verlauf der Zeit immer betäubenderes Schweigen. Ein
Schweigen, das selbst durch die antirevisionistische Änderung des Pressegesetzes, genannt das Gesetz Fabius-Gayssot, am 14. Juli 1990 von Rocard verkündet, nicht unterbrochen wurde. Statt dessen haben mich nach
einer geraumen Zeit des Wartens auf ein Zeichen der Bestätigung auf dem Umweg von Revisionisten, die im unmittelbaren Umfeld Debords kreisten, Signale einer deutlichen Feindseligkeit mir gegenüber erreicht; ohne daß
mir – außer eben dieser kategorischen Feindseligkeit selbst – irgendein Grund übermittelt worden wäre.
Unter diesem Umständen kann ich mich nur in Vermutungen ergehen – die von den Stellen ,,Commentaires...”, die ich in dieser denkwürdigen Nummer 5 der Annales veröffentlicht habe, eventuell erhellt werden können.
Ein Kapitel in Debords ,,Commentaires...” ist besonders interessant: ,,Im Januar 1988 hat die kolumbianische Drogenmafia eine Pressemitteilung veröffentlicht, die darauf zielte, die öffentliche Meinung
bezüglich ihrer behaupteten Existenz geradezurücken. Den größten Wert legte die Mafia verständlicherweise auf die Mitteilung, sie existiere gar nicht, bzw. sie sei das Opfer unqualifizierter Verleumdungen; worin ein
erster Punkt der Vergleichbarkeit mit dem Kapitalismus liegt.”
Aber der Kapitalismus hat niemals seine eigene Existenz geleugnet! Ganz im Gegenteil: Das Kapital erklärt sich, sowie es durch die Werke Smiths und Ricardos Bewußtsein von sich selbst erlangt – weit entfernt
von allem Negationismus – für ewig und naturgegeben. Eine Finanzzeitsclrrift nannte sich – und nennt sich immer noch – Kapital.
Genau über diesen Punkt und das Werk Ricardos haben wir, Debord und ich, oft genug diskutiert. Doch dieser Satz Debords – buchstäblich und offenkundig falsch – erhielte seinen
ganzen Sinn, ersetzte man das Wort ,,Kapitalismus” durch den Namen, der eine Ideologie und jene völkisch organisierten Strukturen bezeichnet, die vorgeben, für eine bestimmte Gemeinde repräsentativ zu sein,
sich aber im Grunde nur der Entfaltung ungehemmter Geldmacht ergeben und ihr Schicksal mit dieser verbunden haben, deren moralische Wiederaufrüstung sie mit Hilfe eines singulären Opferkultes, den sie als Werkzeug
einsetzen, betreiben. Nur wenn man das Wort ,,Kapital” durch das entsprechende, den extremen Nationalismus, das völkische Delirium kennzeichnende Wort ersetzt, erhält dieser Satz einen Sinn.
Jean-Marie Le Pen, der keineswegs als Revolutionär auftritt, war von Mitgliedern einer Sektion der B‘nai B‘rith (die Söhne des Bundes...) vor die Gerichte der Republik gezogen worden – und ist es
allem Anschein nach in dieser Sache noch immer –, weil er unvorsichtigerweise von einer jüdischen Internationale gesprochen hat. B‘nai B‘rith aber ist ihrem eigenen Eingeständnis nach eine
mächtige, ausschließlich Juden vorbehaltene internationale Freimaurerloge.
Debord wird einer der Schriftsteller dieses Jahrhunderts bleiben, dessen Schriften nicht völlig umsonst gewesen sind. Die Öffentlichkeit wird von diesem Schriftsteller behalten, daß er aus seinem Leben selbst ein
Kunstwerk gemacht hat. Und zwar ein höchst betrachtenswertes, besteht doch diese Kunst in der Verwandlung der Gesellschaft. Das wird unbestreitbar seine Größe bleiben, auch wenn diese Verwandlungskunst ihn von der
proletarischen Art der Subversivität trennt. Das markiert auch seine Grenze. Doch in unserer Zeit – in der Dummheit und Verweichlichung jedes bisher gekannte Maß überschritten haben – wäre es völlig
absurd, Debord seine Grenzen vorzuwerfen, solange er sich nicht anmaßt, seine eigenen Grenzen irgend jemanden aufzuzwingen. Und es gibt keinen Hinweis darauf, daß er dies je getan hätte. Noch absurder wäre es, ihm
die Begrenztheit dieser Zeit vorzuwerfen. Und deshalb habe ich mich immer jeder Kritik an ihm und an der Situationistischen Internationale enthalten. Es sein denn, man wolle den Versuch, es besser zu machen, und
nicht, es besser zu sagen, als Kritik verstehen.
Von den persönlichen Momenten abgesehen, die uns von Oktober 1960 bis Mai oder Juni 1966 und indirekt seither verbunden haben, war meine Beziehung zu Debord die eines Lesers zu einem Schriftsteller. Es bleiben von
ihm die zwölf Ausgaben der Internationale Situationniste, eines kollektiven Werkes, an dem sein Anteil groß und untrennbar von der Arbeit der Gruppe war, das Buch ,,La Société du Spectacle” und
die ,,Commentaires...”. Diese Texte gehören unauflösbar in eine Perspektive und zu einem Versuch der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft: Erbe der revolutionären Bewegung des 19. Jahrhunderts und des
Werkes Karl Marx‘, der, trotz der Marxisten, ihr Symbol bleiben wird. Außerhalb dieser Tradition werden diese Texte vermutlich unverstanden und unverständlich bleiben.
Zu einer Zeit, da Debords ,,Commentaires...” erschienen – ein Kuriositätenspiegel der zeitgenössischen journalistischen Niedertracht, der Bewahrung verdient – waren Faurisson und die Revisionisten
zum Ziel höchst gefährlicher Angriffe, ein Ziel totalitärer Verfolgung durch die Medien geworden. Debord gelang es, allzu wilden Schreibern gegen seine Person eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen, indem er gegen
die niederträchtigsten unter ihnen Klage erhob und von den Gerichten Recht bekam. Den Revisionisten wurde, wenn sie, das Recht auf Gegendarstellung durchzusetzen, die Gerichte anriefen, dies mit der Begründung
verweigert, ihre Antworten, auch wenn sie sich nur mit Fragen überprüfbarer Tatsachen befaßten, würden die öffentliche, und sogar die moralische Ordnung – Urteilsspruch von Lyon – gefährden.
Bald sahen sich die Revisionisten aller Möglichkeiten, in den Medien zu antworten, beraubt. Ihre dann im Selbstverlag verbreiteten Stellungnahmen und Antworten brachten Bußgelder und Haftstrafen ein.
Inzwischen hatte Guy Debord einen neuen Verleger gefunden: ,,La Société du spectacle”, ,,Commentaires...” und ,,Considération” kamen bei Gallimard neu heraus. Mehr brauchte es nicht, damit ein
Haufen semisituationistischer Vögel hierin den Beweis von Debords Verrat zu sehen glaubte. Aber es gab seit zwölf Jahren keine SI und keine Situationisten mehr, und selbst wenn die Wahl seines neuen Verlegers einen
ausdrücklichen Widerruf der 1969 im Kollektiv angenommenen Position bedeuten sollte – damals zeigte man Gallimard als angesehenem bürgerlichen Verlagshaus demonstrativ die kalte Schulter –, finde ich,
daß Guy Debord sehr wohl recht hatte, sich nicht mehr länger an der Zurschaustellung einer Radikalität zu beteiligen, die ihre Basis verloren hatte, die zur damaligen Zeit bereits künstlich war.
Es wäre nützlich gewesen, über die Gründe nachzudenken, was den berühmten Verleger der SI gegenüber zu dieser Geistesöffnung gebracht hat. Normalerweise braucht ein wirklich subversiver Autor keine Verleger zu
beschimpfen, um sich eine Ablehnung einzuholen. Gallimard akzeptierte, die Texte unzensiert zu verlegen; mehr ist dazu nicht zu sagen. Gallimard hatte sicherlich nicht gegen das am 14. Juli 1990 im Journal Officiel veröffentlichte Zensur-Gesetz protestiert, doch hat das kein Verleger
getan.
Schließlich erschien noch ,,Cette mauvaise réputation” (,,Dieser schlechte Ruf”). Leider! Es war das erste Mal, daß mir ein Buch Debords geradezu aus den Händen fiel. Nicht, daß Debord nicht wieder einmal
mehr seinen Kritikern gegenüber vollständig recht gehabt hätte. Doch die Klingen mit zu bescheidenen Gegnern zu kreuzen, das führt zur Verschwendung des Talents und zum Verlust dessen Beherrschung. Oder galt es all
jenen, die die Kühnheit hatten, die SI und Guy Debord zu erwähnen, den letzten Stoß zu versetzen, den Endsieg zu sichern? Zum ersten Mal schien es mir, als hätte Guy Debord in dem Punkt, den er behandelte, nicht
ganz recht. Das Amalgam aus halbwegs ernstzunehmenden und vollkommen absurden Kommentaren und Äußerungen – Kritiken kann man das kaum noch nennen –, an denen er sich zu reiben versucht, ist einfach kein
Gegenstand. Die Äußerungen sind bereits Dokumente mangelnder Urteilskraft, sie werden durch die Auseinandersetzung nicht verständlicher. Seine Zurückweisung bleibt in den Nebelschwaden des Gegenübers stecken.
So wie die Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft und der Bewegungsformen des Wertes durch Marx, von der Perspektive der Umwälzung dieser Gesellschaft isoliert, niemanden stört, so zeugt die Beschreibung der
Unterhaltungsindustrie allein nur von Scharfblick. Einen Scharfblick, den man Guy Debord nicht abstreiten wird, der selten genug ist und ihm unsere Erinnerung sichert; doch der nicht ausreicht, die Welt zu
verändern. Was er wußte. Und er wußte zu seiner Zeit – und das ist vielleicht die Hauptlektion der SI – jenen gegenüber erbarmungslos zu sein, die es nicht verstanden, einer vorgeblichen Opposition zur
Gesellschaft, damals schwer in Mode, Taten folgen zu lassen. Doch indem er die mediale Verfolgung, deren Ziel er durchaus war, aufzeigte, und dabei die überaus ernstere, beständigere und systematischere Verfolgung
der Revisionisten mit Schweigen überging – um nicht zu sagen: vernebelte –, kollaborierte er mit der totalitären Unterhaltungsindustrie.
Auf diesen schlechten Ruf, den er in seinem letzten Text für sich in Anspruch nahm, legte er Wert. Er wurde künstlich am Leben gehalten. Guy Debord wollte nicht wissen, daß er – als Autor bei Gallimard –
keinen schlechten Ruf mehr hatte. Von diesem schlechten Ruf nebst medialem Bannfluch waren zu dieser Zeit andere als er betroffen, und diese brauchten keinerlei künstlerische Anstrengung zu leisten, um Opfer zu
werden. Denn die totale Unterhaltung – so dümmlich unwissend sie ist in bezug auf sich selbst – weiß ihre Feinde zu identifizieren. Guy Debord hatte keinen schlechten Ruf mehr.
Die Gesellschaft war ihm für die Umsicht dankbar, nicht gesondert zu erwähnen, welch zentrale Rolle Auschwitz in der von ihm ansonsten meisterlich analysierten Société du Spectacle spielt. Es gibt keine andere
Erklärung. Man stelle sich einen Augenblick seine Lage und das Los vor, das ihn ereilt hätte, wenn er sich hätte einfallen lassen, die Prinzipien seiner Kritik der Show auf das Shoah-Business anzuwenden.
Anmerkungen:
Der erste Leser des Rohentwurfs hat mich darauf hingewiesen, daß Trotzki in “Mein Leben” eine ähnliche, aber in London spielende Anekdote erzählt. Ich weiß nicht, ob die
Geschichte in Paris das Produkt eines Gerüchtes ist oder einer verselbständigten mündlichen Überlieferung entstammt, die in unseren Kreisen, in denen die Alten Lenin und Trotzki gekannt hatten, umging.
2 Der zur damaligen Zeit als Wahlkämpfer für die ,,Französische” ,,Kommunistische” Partei tätig war.
3 La Vieille Taupe – Organe de critique et d‘orientation postmessianiqué Nr.1, Frühjahr 1995; Bezugsanschrift: B.P. 98, F-75224 Paris Cedex 05
4 deutsch: ,,Die Lüge des Odysseus”
5 Muß man noch genauer darauf eingehen? Juden – und nicht etwa die Juden – sind Opfer von Verfolgungen geworden. Nichts ist legitimer, als darauf
hinzuweisen. Nichts ist den Opfern gegenüber angemessener als Mitgefühl und, soweit dies möglich ist, Wiedergutmachung. ,,Opferkult” nenne ich das einseitige apologetische und mythologische
Vorstellungs-System, durch das die Organisationen, die behaupten, die jüdischen Opfer zu repräsentieren, zu ihrem Vorteil und zum Vorteil ihrer politischen Projekte die wirklichen Opfer instrumentalisieren, die
sonmit abermals zu Opfern werden!
6 “Commentaires...”, Ed. Lébovici, S. 72
7 siehe zu diesem Thema auch Detlev Claussen: ,,Der ,Holocaust‘ – nicht das wirkliche Ereignis, sondern seine massenmediale Bearbeitung in Bild und Buch – ist zum Treibstoff kulturindustrieller Vermarktung geworden”, Freitag vom 5.1.1996; siehe auch im Werk Ruth Klügers.
Siehe zu diesem Thema auch Detlev Claussen: “Der ‚Holocaust‘ – nicht das wirkliche Ereignis, sondern seine massenmediale Bearbeitung in Bild und Buch – ist
zum Treibstoff kulturindustrieller Vermarktung geworden.” Freitag 5.1.96; siehe auch im Werk Ruth Klügers – Anm. Sleipnir-Schriftleitung
* Wer mehr über die Situationisten erfahren möchte: www.nothingness.org/SI/index.html und http://machno.hbi-stuttgart.de/~hk/si/ - Anm. nA
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